Seitdem letztes Jahr im Frühjahr die Redaktionsräume von Charlie Hebdo von Terroristen angegriffen wurden, findet man bei neuen Anschlägen immer mal wieder Variationen das damaligen Solidaritäts-Slogans „Je suis Charlie“.
So ist man neben Charlie auch Paris oder Brüssel, aber ganz selten mal Bagdad oder Damaskus, obwohl der Terrorismus dort aktuell mehr und öfter Opfer fordert.
Dies ist immer wieder Gegenstand von Kritik. Hier wird unterschieden in Menschen erster (Europäer, evtl. Christen) und zweiter (Araber, meist Muslime) Klasse, so der Vorwurf.
Ich habe mich auch oft gefragt, wieso das so ist, denn eigentlich halte ich mich nicht für einen Rassisten, trotzdem erlebe ich, daß mir die Anschläge in Europa oder den USA oft näher gehen als die in Bagdad, Kabul oder Damaskus.
Das gilt nicht nur für Anschläge, da gilt auch beispielsweise für die Flüchtlingskrise: Hand aufs Herz: Wie betroffen sind wir bei der 101. Meldung über ein untergegangenes Flüchtlingsboot? Fährt aber ein LKW in eine Menschenmenge, und wird dann noch berichtet daß sich auch Kinder unter den Opfern befinden, steht uns das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Wieso?
Erinnert sich noch jemand an Aylan Kurdi? An den Namen vielleicht nicht, wer aber dem Link folgt und herausfindet, daß es sich um den kurdischen Jungen handelt, der letzten Herbst an der Küste von Bodrum angespült wurde und dessen Bild um die Welt ging, dürfte jeder wissen, wer gemeint ist.
In dem Fall war es anders. Anders als bei den Anschlägen in Istanbul, Damaskus und Kabul gab es Reaktionen fast schon wie bei Terroranschlägen hier.
Das lag weniger daran, daß er ein kleiner Junge war. Kleine Jungen ertrinken viele im Mittelmeer, und viele sterben in den Terroranschlägen dieser Welt.
Es lag daran, daß auf einml breiter über ein Individuum berichtet wurde. In die Opfer von Paris und Brüssel versetzen wir uns rein, weil sie ein Gesicht haben, weil die Medien ihnen ein Gesicht geben, sie erwähnen. Bei den Opfern im islamischen Kulturkries geschieht das nicht. Unseren Medienvertretern werden die Kosten zu hoch sein, nach Kabul zu fliegen für eine Story über den Vater, der seine Frau und zwei Kinder in einem Anschlag verlor, nachdem er grad mit viel Mühe das Schulgeld aufgebracht hatte. Geschichten mit Tränendrüsen-Effekt wären da auch möglich – nur sind sie teurer, weil es weiter weg ist, und weil man die Sprache sprechen muß.
Die Kabuler Medien fallen da auch aus: Denn sie berichten in einer der Landessprachen, und haben im Westen keine nennenswerte Verbreitung.
Ob das nun rein finanzielle oder doch auch rassistische Gründe sind, daß unterschiedlich über die Opfer berichtet wird, sei mal dahin gestellt. Medienunternehmen müssen, wie alles in unserer Zeit, Gewinn machen, also bringen sie die Geschichten, die Auflage machen und günstig produziert werden können.
Ich denke, zu fordern, daß alle Charlie oder Nizza oder sonst eine Stadt sein sollen, geht sowieso in die falsche Richtung. Man heizt damit die Reportagen an, man heizt damit dann auch die Angst an, daß so etwas nochmal geschehen könnte. Man unterstützt damit die angstgetriebene Gegenreaktion: Noch mehr Überwachung, noch mehr Druck. So sorgt man für immer neuen Nachschub an Terrorsympathisanten. Das wollen die Terroristen.
Ich denke, die Lösug liegt weniger darin, auch über die Opfer in Kabul und Istanbul eine Homestory zu schreiben, sondern darin, über die Opfer hier in Europa so nüchtern zu berichten wie über die Opfer dort. Sicher ginge dadurch eine Menge Geld verloren für die Medien, aber das liegt an uns, die wir diese Medien konsumieren. Da können wir tatsächlich etwas ändern. Die französische Polizei hat da einen ersten Schritt unternommen und darum gebeten, die Fotos nicht mehr weiter zu verbreiten – aus Respekt vor den Opfern:
Ich denke, das ist ein guter Anfang: Nicht mehr mitmchen. Sich diesem Spiel verweigern. Es ist schlimm genug, wenn Menschen sterben. Wir müssen sie nicht noch vor unseren Wagen spannen, egal ob wir nun Medienunternehmer sind, die Geld verdienen müssen, oder entsetzte Bürger, die ihr Mitgefühl ausdrücken wollen, oder rechte Hetzer, die die Situation politisch ausbeuten wollen. Nun, die rechten Hetzer werden nicht aufhören.
Aber alle anderen: Laßt uns nicht das tun, was wir immer tun, und meinen, wir würden ein anderes Ergebnis bekommen. So definiert man Wahnsinn. Laßt uns einfach nicht mehr mitspielen, was anderes spielen. Irgend etwas Produktives.
Ich bin für Vorschläge offen.