Was haltet ihr von meiner These: Jemand der diese bestehenden Verhältnisse nicht auf radikaler Weise verändern möchte, trägt in meinen Augen viel mehr Schuld an dem Leid und die Ungerechtigkeiten in dieser Welt, also an 100.000 unnötiger Tote, als diejenigen, die auch durch die Anwendung von Gewalt bereit sind, diese Verhältnisse zu verändern? Oder anders ausgedrückt, in meinen Augen sind die Leute, die zaudern und abwarten die waren (sic!)“Schlächter“ unserer Zeit.

In der inzwischen mehrmals behandelten Diskussion zu Ravenbirds „Radikalisiert Euch“  hat Gokh diese These aufgestellt. Ich will hier nun aufschreiben, was ich davon halte.

Gokh stellt hier zwei Menschengruppen einander gegenüber:

Diejenigen, die die bestehenden Verhältnisse nicht in radikaler Weise verändern möchten und diejenigen, die auch durch Anwendung von Gewalt bereit sind, diese Verhältnisse zu verändern.

Zuerst kommen mir einige Rückfragen:

  • Was ist mit den Menschen, die die Verhältnisse durch Gewalt verändern wollen, aber eben nicht in radikaler Weise?
  • Was ist mit den Menschen, die die Verhältnisse vielleicht etwas mehr verändern wollen als die erstgenannten, aber eben keine Gewalt anwenden wollen?
  • Welche Verhältnisse sind überhaupt gemeint? Was genau soll verändert werden und wie?

Die Fragen beziehen sich freilich auf Spitzfindigkeiten. Ich habe sie trotzdem kurz aufgelistet (es könnten wohl einige mehr gefunden werden) um zu veranschaulichen, daß ich Gokhs These als ad hoc Formulierung ansehe, in der der Kern nicht präzis gefasst werden soll, sondern eher umschrieben wird.

Ich gehe in Diskussionen auch meist so vor, daß ich meine Gedanken im Zweifel irgendwie äußere, um dem Gegenüber zu ermöglichen, auf mich einzugehen, auch wo ich noch keine präzisen Formulierungen gefunden habe, weil es mir darum geht, die eigenen Ansichten weiterzuentwickeln und nicht, anderen meine Überzeugungen überzustülpen. Genau so verstehe ich Gokh hier.

Es scheint mir so zu sein, daß Gokh zwei Seiten aufmacht. Auf der einen Seite steht  die radikale Veränderung, im Zweifel durch Gewalt, auf der anderen Seite die Abwarter und Zauderer. Moderate Veränderer werden hier nicht genannt und auch wenn ich mir vielleicht denken kann, wo er sie einordnen würde, möchte ich diese Gruppe doch im Weiteren als eigene Gruppe ansehen (Du kannst ja auf meine Dreiteilung dann wieder eingehen, Gokh ;)).

Zaudern und abwarten

Die Rede vom „zaudern“ ist ja schon wertend. Und ja, es kann durchaus viel vorgebracht werden gegen das Zaudern. Ich erinnere mich an meine Zeit bei der Bundeswehr, wo es ein Sprichwort gab:

Probleme lösen sich, indem man sie ignoriert.

Gemeint wird damit, daß Probleme irgendwann einmal so groß werden, daß sie nicht mehr gelöst werden können, aber viele neue Probleme verursachen. Das erste Problem ist damit „sozusagen“ gelöst, und zwar auf die denkbar schlechteste Weise.

Allerdings hat Abwarten auch etwas für sich. Und zwar genau in den Situationen, in denen man tatsächlich noch nicht weiß, wie man sich entscheiden soll. Blinder Aktionismus führt in der Regel zu eben so wenig Erfolg wie Zaudern und hoffen, daß alles vorbei geht oder sich von alleine bessert (was es in der Regel nicht tut, siehe Bundeswehr-Sprichwort).

Meine Ansicht ist hier die, daß man in der Tat so lange abwarten sollte, bis man sich eine Meinung gebildet hat, wobei man sich die Zeit, die es braucht, um eine Meinung zu entwickeln, zugestehen muß.

Man wird nicht immer zu 100% sicher sein, was bedeutet, daß man auch ein Stück weit Vertrauen in die eigene Einschätzung haben muß. Hilfreich ist es dann, wenn einem nicht jeder Fehler ewig nachgetragen wird. Ich denke an Luther mit seinem „pecca fortiter“:

Sündige tapfer, doch tapferer glaube und freue dich in Christus, der Herr ist über Sünde, Tod und Teufel.

Luther ging es im Kontext auch ums Zaudern. Lieber gar nichts zu tun als eine Sünde, für die man dann von Gott Strafe zu erwarten hätte. Luthers Punkt war ja, jetzt etwas verkürzt gesagt, daß Gott die Menschen eben nicht strafen und richten will, sondern sie liebt und denjenigen, die sich zu Ihm halten (an Ihn glauben) vergibt. Übertragen auf unsere Situation: Wer im guten Glauben (nämlich daß sein wohl erwogenes Tun die Zustände verbessert) sich irrt und eher Schaden verursacht, sollte mit Vergebung begegnet werden. Wir alle machen Fehler, dem sollten auch Menschen zustimmen können, die nicht an die grundsätzliche Sündhaftigkeit des Menschen glauben.

Eine ganz andere Gruppe von Menschen, die noch nicht genannt wurden, möchte ich hier auch kurz ansprechen, weil der Effekt ihres Handelns wohl dem der Zauderer und Abwarter ähnelt:

Die Indifferenten

Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes:
Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest!
Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.

So steht es im 3. Kapitel der Johannesapokalypse. Die Extreme werden als annehmbar angesehen, aber das Unentschlossene ist es, das kritisiert wird.

Es gibt viele Situationen, in denen man unentschlossen oder indifferent sein kann. Entweder man ist noch nicht an dem Punkt, an dem man zu einer begründeten eigenen Meinung gekommen ist – siehe oben. Oder man ist sich eines Sachverhaltes nicht bewußt; so hatte Luther wahrscheinlich keinen Standpunkt zur PID und auch hier und heute wissen viele nicht von der Not, die andere Menschen aushalten müssen. Oder die Menschen sehen weg und wollen bestimmte Probleme gar nicht sehen. Manchmal sieht man sie vielleicht auch, ist aber dermaßen mit anderen Dingen beschäftigt, daß man keine Ressourcen mehr frei hat.

Wenn sich jemand für den Umweltschutz einsetzt, hat er vielleicht nicht mehr die Zeit oder auch nur das Wissen, sich zu jedem Detail der Netzpolitik zu äußern. Wer in der Flüchtlingshilfe engagiert ist kennt sich vielleicht nicht so sehr mit alternativen Wirtschaftssystemen aus.

Worauf ich hinaus will: Wir alle sind bei der einen oder der anderen Sache indifferent oder nachhaltig ohne eigene Meinung, weil wir einfach nicht dazu kommen, weil wir an anderen Problemen dran sind. Und das muß, denke ich, respektiert werden. Wir sind als Menschen halt nicht nur fehlbar, sondern auch endlich. Irgendwo ist das Ende meiner Leistungsfähigkeit erreicht.

Sicher bin ich der Meinung, daß jemand, der keine ernsten Probleme hat und nur die Augen vor dem echten Elend der Welt verschließt, kritisiert werden müßte. Doch liegt „echtes Elend“ im Auge des Betrachters. Es gehört halt auch ein gewisses Wertesystem dazu, bestimmte Dinge als echte Not und andere als weniger schlimm zu betrachten. Wir haben nicht alle das gleiche Wertesystem, und wir wollen sicherlich auch nicht dahin (hoffe ich), daß eine Institution allen Menschen ein Wertesystem vorschreibt. Denn wie gesagt: Wir sind alle fehlbar, so auch die Maßstäbe der Institutionen, die wir gründen. Neuere Entwürfe könnten wahrscheinlich nicht viel besser sein als die „Kirche im Mittelalter“ (ich nehm dies mal als Symbol, weil viele Leute sich unter „Kirche im Mittelalter“ in Verbindung mit „zwanghaftem Wertesystem“ in etwa das vorstellen können, was ich meine – daß es so einfach historisch nie war, lasse ich mal bis auf diese Erwähnung um des Themas willen unter den Tisch fallen).

Es kann also keiner ein für alle allgemein- und letztgültiges Wertesystem verordnen, ohne sich berechtigete Kritik zuzuziehen. (Es gibt allgemeine und letztgültige Wertesysteme in einigen Religionen oder Konfessionen, aber diese gelten immer lediglich für diejenigen, die sich dazu bekennen – man unterwirft sich dem also freiwillig. Zu staatlichen Gebilden gehört man aber durch Zwang. Ich unterliege in Deutschland den deutschen Gesetzen, und niemand hat mich je danach gefragt, ob ich das so in Ordnung finde).

Worauf ich hinaus will: Wir können sagen, daß wir bestimmte Haltungen ablehnen, aber wir können keine Objektivität beanspruchen, wenn wir jemandem sagen, sein Problem, passendes Gesinde für seinen Sommersitz in Monte Carlo zu finden, sei weniger groß oder wichtig als das Problem der Flüchtlinge, einigermaßen heil über das Mittelmeer zu kommen, oder allein die Flucht aus Syrien zu überleben. Es kommt auf das Wertesystem an und auch, wenn wir in diesen Fällen wahrscheinlich (hoffentlich!) zu einem sehr breiten Konsens kommen dürften ist das noch keine Objektivität.

Moderate Veränderer

Diese von Gokh nicht genannte Gruppe unterscheide ich von den radikalen Veränderern anhand der Bereitschaft zur Gewalt. Während die Radikalen (Waffen)-Gewalt als legitimes Mittel ansehen, tun die moderaten Veränderer dies nicht.

Der Unterschied zu den Zauderern ist der, daß sie tatsächlich einen Standpunkt haben (der IMHO durchaus radikal sein kann) und etwas tun, um ihr Ideal umzusetzen.

Es stellt sich ja durchaus die Frage, ob Gewalt überhaupt eine Situation verbessern kann. Wenn man etwa Hartz IV als Gewalt gegen Arbeitslose versteht kann man durchaus fragen, ob eine Gegengewalt die Situation zwingend verbessert.

Jedenfalls können die moderaten Veränderer anders als Zauderer und Indifferente von sich sagen,  daß sie tatsächlich etwas zu ändern gedanken. Sie sind somit nicht schuldig an all dem Leid, das durch sie verändert wurde. Insofern und falls ihre Methode länger braucht als andere, um Veränderungen zu bewerkstelligen, laden sie auch für das Leid in der entsprechenden längeren Zeit Schuld auf sich. Insofern sie aber nicht zur Gewalt greifen, laden sie durch diese keine Schuld auf sich.

Radikale, gewaltbereite Veränderer

Entsprechend dem gerade Gesagten muß natürlich gesagt werden, daß die gewaltbereiten Veränderer ihre Schuld in dem Maße vergrößern, in dem ihre Gewalt Leid verursacht. Und dabei muß man auch sehen, daß Gewalt nachwirkt: Wenn der Vater erschossen wird haben es die Kinder mit einem Elternteil in der Regel schwerer, ist auch ihre Armut größer, was siech wieder auf deren Kinder und deren Chancen auswirkt etc etc. Man braucht auch nicht im Materiellen zu verharren, auch immateriell fehlt ein der Gewalt zum Opfer gefallenes Elternteil (es kann auch die Mutter sein oder was, wenn ein Geschwisterchen zum „Kollateralschaden“ wurde?).

Dem kann natürlich eine möglicherweise schneller durchgesetzte Verbesserung gegenübergesetzt werden, falls diese Leid minimiert.

Ich bin bei aller Verehrung für Martin Luther King kein Pazifist. Ich habe meinen Wehrdienst geleistet und bin der Ansicht, daß Gewalt unter bestimmten Umständen geboten sein kann. Als Beispiel wird gerne Hitler genannt, den man mit frommen Wünschen wohl kaum hätte aufhalten können. Ich denke darüber hinaus am Paulus und Römer 13:

Paulus stellt hier die nützlichen Seiten der Gewalt heraus nämlich, daß es eine Ordnung gibt innerhalb derer mit relativem Frieden gelebt werden kann. Eine solche Ordnung ist natürlich wiederum fehlbar, sie ist nicht ideal, weil sie von Menschen gemacht ist und Menschen Fehler machen (außerdem müssen Ordnungen auch der jeweiligen Zeit angepasst werden, siehe PID). Aber eine solche Ordnung ist besser als eine Unordnung, in der zwei oder mehr etwa gleichgroße Gruppen einander bekämpfen (ob mit Waffen oder anderen Machtmitteln wie Gesetzen oder Verordnungen sei einmal dahin gestellt) und keiner weiß, was jetzt eigentlich gilt.

Aber jede Gewalt hat ihre Grenze in ihrer Notwendigkeit. Ziel der Gewalt ist es, den Frieden zu sichern. Sichert sie den nciht mehr, sondern dient der Begünstigung oder der Unterdrückung bestimmter Menschen, ist die Gewalt ein Problem.

Dann ist auch immer die Frage zu stellen, welche Gewaltmittel angewendet werden sollen. Man kann auf gesetzliche Veränderungen hinwirken, was länger duaert und im Zweifel nicht so erfolgreich ist, oder man versucht etwas mit Waffengewalt durchzusetzen.

Da stellt sich dann die Frage nach der Effektivität. Wenn cih eine Minderheitenmeinung vertrete werde ich immens viel Gewalt aufwenden müssen, um diese Ansichten durchzusetzen. Bedeutet mehr Leid, bedeutet mehr Schuld. Womöglich wäre das Leid (und die Schuld) geringer, wenn man erst einmal auf Überzeugungsarbeit setzt. Ohne eine gewisse Basis von Überzeugten bricht jede Ideologie zusammen. Die Weimarer Republik konnte ohne Demokraten nicht bestehen, ebensowenig waren die Versuche, in Afghanisten und im Irak demokratische Gesellschaften zu implementieren, nicht wirklich erfolgreich. Auch in anderen Ländern mag es relativ regelmäßige Wahlen geben, während aber trotzdem grundlegende Rechte mißachtet werden.

Wobei mich der Irak und Afghanistan zu einem anderen Punkt bringen: Wenn es tatsächlich zur Anwendung von Waffengewalt kommt, sollte ein klarer Plan bestehen, wie es danach weitergeht. Waffengewalt kann vielleicht ein Zeitfenster für Veränderung eröffnen. Diese Veränderungen müssen dann aber schnelll greifen und effektiv werden, so daß niemand mehr (oder kein hinreichend großer Bevölkerungsanteil) zum status quo ante zurückwill. Das war offenbar nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben (da gab es zwar vorher keine wirklichen Pläne, aber sie wurden nachher zeitnah entwickelt und umgesetzt, wohl auch wegen dem Druck der Blockkonfrontation). Andere Beispiele könnten genannt werden.

Fazit

Schuld laden, so war meine Intention, darzustellen, alle auf sich. Die, die gar nichts tun, für die Unterlassungen, die, die etwas tun, zumindest für die Abweichungen vom (unbekannten) idealen Weg. Insofern ist auch das Ausmaß unserer Schuld unbekannt. Auch die Uneinigkeit beim Wertesystem trägt dazu bei, daß das Ausmaß der Schuld kaum genau quantifiziert werden kann.

Wir Menschen tendieren dazu, so ist mein Eindruck, die eigene Schuld zu relativieren und vor allem in anderen ein Problem zu sehen. Ich war gerade im Schulpraktikum an der Grundschule. Die Schüler waren allesamt liebe Kinder, die mir sehr ans Herz gewachsen sind, ich halte niemanden davon für irgendwie abgrundtief böse oder ähnliches. Trotzdem muß ich sagen: An diesen Grundschulkindern konnte man diese Grundtendenz ziemlich klar sehen: „Der hat angefangen“ – „Ich hab nur…“ – „Ich hab nichts getan und die hat“ – „Nein, das stimmt nicht, hab ich nicht…“

Für die Ausgangsfrage: Wer lädt mehr Schuld auf sich, muß ich sagen: Wer Probleme sieht und nichts tut muß vielleicht eher kritisiert werden als derjenige, der etwas tut, wobei man eben auch darauf achten muß, ob derjenige das, was gesehen werden soll, auch ebenso sieht. Mir kommt Marie Antoinette in den Kopf:

Wenn das Volk kein Brot hat, dann soll es eben Torte essen

Ja, ich bin auch der Meinung, daß das ignorant ist. Aber Ignoranz kann ja tatsächlich in Unwissenheit wurzeln. Wer von uns hat schon Verständnis für die Menschen, die seinen gewohnten Kreisen fremd sind: Welcher Punker hat Verständnis für Nazis? Welcher Nazi für Flüchtlinge oder Ausländer allgemein?

Dazu kommt das Problem, daß sowohl Leid als auch Schuld an sich schwer quantifizierbar sind. In welcher Maßeinheit will man das messen? Ich hab keinen Job und kein Essen im Kühlschrank, also habe ich 2 Meter Leid? Ich hab meine Altersvorsorge in Aktien und sorge bei der Aktionärsversammlung nicht für menschenwürdige Produktionsbedingungen, also habe ich 5 Meter Schuld auf mich geladen?

Was soll so eine Quantifizierung überhaupt bringen? Will man sich besser fühlen als andere? Eine Art holier than thou mit säkularem Vorzeichen? Ich vermute, es ist zielgerichteter, nicht auf die Mitstreiter und deren Performanz bei Veränderungen zu schielen, sondern sich eher um die Veränderungen zu kümmern (wobei natürlich thematisiert werden muß, welche Methodik man anwendet).

Und was wir noch überhaupt nicht angesprochen haben: Veränderungen gehen in tausende Richtungen und in tausenden Details. Wenn zwei die bestehenden Zustände ändern wollen, dann wollen sie vielleicht in eine entgegengesetzte Richtung. Konkret: Ein Nazi, der Gewalt anwendet, um die bestehenden Umstände in eine Diktatur zu verwandeln, lädt nach meiner (mein Wertesystem ist ja nicht objektiv) Auffassung mehr Schuld auf sich als jemand, der mit gewaltfreien Mitteln die Gesellschaft offener machen will.

Freilich hat Gokh den Nazi nicht im Blick, sondern geht implizit – so verstehe ich ihn – von einem Konsens in der Marschrichtung bei der Veränderung aus. Aber vielleicht bezeichnet das ein grundsätzliches Problem in der Diskussion. Bevor wir uns darüber unterhalten, wie sehr wir uns radikalisieren oder nicht und wer jetzt mehr Schuld auf sich lädt, sollten wir wahrscheinlich doch erst mal darüber reden, in welche Richtung wir wollen. Sprich: Überzeugungsarbeit leisten. Unter uns, und nach außen. Wenn wir dann irgendwann einen Konsens auf relativ breiter gesellschaftlicher Basis haben, auf was wir hinaus wollen und vielleicht auch, wie wir das erreichen, können wir uns Gedanken machen über die Radikalisierung, denn wie gesagt: Die Zeit, sich eine Meinung zu bilden, sollte man sich zugestehen. Sonst gebirt blinder Aktionismus am Ende nur Leid, ohne wirklich eine Verbesserung zu erreichen. Damit ist keinem gedient.

 

Comments

Comment by Thomas Jakob on 2014-12-28 07:55:48 +0100

Gokhs These mag sich gut und engagiert anhören, ist aber in Wirklichkeit alter, längst widerlegter Käse. Das ist im Gefolge von Marx und Lenin gescheitert und hat dort in den Stalinschen Gulag geführt anstatt zum Kommunismus. Dieses Scheitern wurde in etlichen Ländern wiederholt.

Auch Baader-Meinhof & Co. haben solche Diskussionen geführt, falsche Entscheidungen getroffen und nichts, sogar weniger als nichts erreicht.

Die Wurzel des Übels liegt darin, dass man sich als Einzelner oder kleine Gruppe, die glaubt, die Wahrheit erkannt und gepachtet zu haben, das Recht nimmt, seine Lösung anderen mit Gewalt aufzuzwingen. Die Voraussetzung stimmt nicht, ein solches Recht gibt es nicht und die sog. Lösung ist oft schlimmer als das Ausgangsproblem.

Comment by De Benny on 2014-12-28 12:32:07 +0100

Du hast Recht, meine Assoziationen laufen in eine áhnliche Richtung. Aber wenn man mal nicht die Soialismus-RAF-Gulag Brille aufsetzt, dann haben auch die Revolutionäre der Frz. Revolution Gewalt angewandt, ebenso kam es in den 1848er Revolutionen zu Blutvergießen etc etc.

Ich stimme Dir also zu, was kleine Gruppen angeht, dir ihre Forderungen mit Gewalt umsetzen wollen. Die Frage wäre, wie das bei anderen Mehrheitsverhältnissen bewertet werden muß. Oder spielen die konkreten Inhalte eine Rolle?

Unter diesen Gesichtspunkten sehe ich Gokhs These.

 

 

Comment by Thomas Jakob on 2014-12-28 12:55:56 +0100

Mir reicht es, die allgemein formulierte These Gokhs zu widerlegen, und das betrachte ich mit den angeführten gravierenden Gegenbeispielen als erledigt. Mir ist diese Art von sich radikal und engagiert gebärdendem Maulheldentum zuwider.

Man könnte für ein differenziertere Diskussion einen Katalog von Revolutionen anführen und würde vermutlich dabei ein paar finden, die man im Nachhinein positiv beurteilen kann. Ich halte es aber für unmöglich, Vorhinein Bedingungen zu definieren, unter denen eine gewaltsame Revolution sowohl erlaubt als auch erfolgversprechend ist.

Comment by Christina on 2014-12-28 14:29:34 +0100

@ Thomas Jakob: Wie sieht es dann mit der ISIS aus? Ist ein gewaltsames Vorgehen gegen sie in deinen Augen nicht gerechtfertigt?

Comment by Thomas Jakob on 2014-12-28 15:10:21 +0100

So wie ich dieses Thema verstanden habe, ging es bisher um Revolution, d. h. um einen gewaltsamen Aufstand von unten gegen bestehende Regierungen.

ISIS betrifft ein anderes, auch sehr interessantes Thema, die militärische Intervention von außen in souveräne Staaten. Ich bin der Meinung, dass es in den vergangenen Jahrzehnten immer üblicher geworden ist, zu intervenieren. Dass ISIS überhaupt hochkommen konnte, ist die Folge der Interventionen im Irak und in Syrien. Jetzt hat man mit ISIS die nächste negative Folgeerscheinung am Hals und kann kaum anders, als weiter militärisch von außen einzugreifen, weil der Irak und Syrien selbst zu schwach sind.

Für Christen ist das ein Dilemma. Mehr dazu geschrieben habe ich hier:

http://schwerglaeubiger.blogspot.de/2014/08/isis-luther-und-die-bergpredigt.html

Comment by De Benny on 2014-12-28 20:05:50 +0100

Mir reicht es, die allgemein formulierte These Gokhs zu widerlegen, und das betrachte ich mit den angeführten gravierenden Gegenbeispielen als erledigt.

Mir geht es hier nicht ums „Erledigen“, sondern um den Diskurs mit den Vertretern des „Maulheldentums“. Durch Abgrenzen überzeugt man keinen. Durch einfaches benennen der historischen Vorbilder nach meinem Eindruck auch nicht. Ich sehe zumindest bei einigen „Maulhelden“ viel Potential zum Guten, allerdings auch das Problem mit der Gewalt. Darauf will ich die „Maulhelden“ hinweisen. Mein Ziel ist es, ihnen die Gefahren und Konsequenzen ihrer Denke vor Augen zu führen. Gokh und Ravenbird machen auf mich den Eindruck, eigentlich ganz reflektiert zu sein, das heißt, die können IMHO dieses Umdenken auch leisten. Dazu muß ihr Denken aber herausgefordert werden.

 

Ich halte es aber für unmöglich, Vorhinein Bedingungen zu definieren, unter denen eine gewaltsame Revolution sowohl erlaubt als auch erfolgversprechend ist.

Ich will nicht nur auf Revolutionen, sondern auf Gewalt als Mittel zur Veränderung allgemein raus. Darunter fällt auch die ISIS Thematik, die Christina aufgebracht hat. Es geht mir nicht darum, Gewalt zu rechtfertigen. Wer zur Gewalt greift, lädt Schuld auf sich. Du schreibst in Deinem verlinkten Artikel, daß das manchmal nötig sein kann, wenn man dann auch den Kern des christlichen verläßt. Ich bin da gar nicht so weit von Dir weg (wobei ich mich vielleicht weniger um das Label „christlich“ kümmere – ich bin weniger an einer corporate identity interessiert als daran, wie ich dereinst vor meinem Herrn stehen werde – polemisch ausgedrückt).

Ich sehe hier und heute in unserer Gesellschaft einfach nicht die Notwendigkeit, irgend etwas mit Waffengewalt durchzusetzen. Im Dritten Reich hätte ich das vielleicht anders gesehen. Wie soll man die „Operation Wallküre“ bewerten? Die Bundeswehr macht da ja immer ein großes Brimborium, während in München am Gedenkstein der Weißen Rose deutlich weniger los ist, nach meinem Empfinden… aber ich schweife ab. Was ich nicht tue, ist Gewalt kategorisch und absolut auszuschließen. Ich bin kein Pazifist. Aber ich versuche, immer wieder neue Wege zu finden, sie auszuschließen in bestimmten Fällen. Wie etwa jetzt für unsere Gesellschaft. Wir haben eine funktionerende Demokratie, allerdings habe ich den Eindruck, daß die Gesellschaft auseinanderzubrechen droht. Man demonstriert, hält sich für „das Volk“ und verweigert aber jeden Dialog. DAS muß sich IMHO ändern, und zwar als erstes. Nicht das Streben nach dem Durchsetzen der eigenen Vorstellungen, sondern das Streben nach einem Verstehen des Gegenübers und einem auf diesem Verstehen aufbuenden Konsens. So kommen wir am ehesten der beloved community von King näher, und das wär dann auch wieder nicht unchristlich 😉

Comment by Christina on 2014-12-28 21:22:24 +0100

@ Thomas Jakob:

Sehe ich auch so.

Was deinen Link angeht: Ich stimme dem Luther hier zu. Was die Bergpredigt angeht, glaube ich, dass sie oft für einen falschen Pazifismus mißbraucht wird.

„Wenn dich einer auf die Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin“, bedeutet eben nicht, wenn jemand in dein Haus eindringt und eines deiner Kinder ermordet, dass du ihm auch das andere noch anbieten sollst. 😉

Habe mal vor längerem einen interessanten Text dazu gelesen: http://www.soundwords.de/artikeldr.asp?id=613

Comment by Thomas Jakob on 2014-12-30 19:43:53 +0100

@ Christina

Danke für den Link. Inhaltlich überzeugt mich Reid überhaupt nicht. Man kann die Bergpredigt nicht mit ein paar plakativen Gegenbeispielen derart relativieren. Die Bergpredigt fordert und sie überfordert, mich genauso wie die meisten anderen. Aber sie zeigt die Perspektivänderung, die Jesus gebracht hat und die er mit aller Konsequenz gelebt hat.

Was mit einer solchen Perspektivänderung erreicht werden kann, hat in der Neuzeit Mahatma Gandhi gezeigt. Es ist nicht unbedingt ein Kompliment für die Christenheit und ihre Wortführer, dass ein Hindu ihnen vormacht, wie Gewaltfreiheit im Geiste der Bergpredigt funktioniert.

Als eine meiner Meinung nach wirklich gute Auslegung der Bergpredigt kann ich die entsprechenden Passagen aus der ‚Nachfolge‘ von Dietrich Bonhoeffer empfehlen. Leider weiß ich keinen Link dazu, aber das Buch lohnt sich.

@ Benny

Apropos Bonhoeffer: Dietrich Bonhoeffer hat die Entscheidung getroffen, an dem Attentat auf Hitler mitzuwirken und damit auch Gewaltausübung mitzutragen. Er hat dennoch den Konflikt mit seinen christlichen Grundüberzeugungen gesehen und nicht irgendwie argumentativ eingeebnet.

In der Bewertung des Attentats vom 20. Juli 44 bin ich zwiespältig. Einerseits war es definitiv gut und wichtig, dass es versucht wurde. Andererseits war es trotz der ganzen Leiden, die es hinterher gegeben hat, vielleicht doch besser, dass es gescheitert ist, sonst hätten wir möglicherweise später eine neue Dolchstoßlegende und ein viertes Reich erleben müssen.

Und  ja, es ist ungerecht, dass die am 20. Juli 44 Beteiligten so viel mehr beachtet und geehrt werden als die weniger spektakulären und gewalttätigen Menschen des Widerstands. Auch hier hat das sich selbst so nennende christliche Abendland etwas nicht begriffen.

Comment by De Benny on 2014-12-30 19:59:38 +0100

Er hat dennoch den Konflikt mit seinen christlichen Grundüberzeugungen gesehen und nicht irgendwie argumentativ eingeebnet.

Den Konflikt sehe ich durchaus auch. Aber manchmal wird man schuldiger, wenn man nichts macht. Idealiter handelt man gewaltfrei zur Lösung von Konflikten lange bevor sie sich Richtung Gewalt entwickeln. Bricht der Konflikt dann auf, hat man sich schon schuldig gemacht, insofern man es zuließ… (ist jetzt alles auch sehr plakativ formuliert, aber ich denke Du verstehst meine Denkrichtung).

Auch hier hat das sich selbst so nennende christliche Abendland etwas nicht begriffen.

 Da bin ich voll Deiner Meinung.