Ravenbird hat bei Diaspora* dieses Bild gepostet.
Dazu hat er noch einen Text geschrieben und das ganze hat ein paar Diskussionen nach sich gezogen.
Ich gebe zu ich habe anfangs den Text nur überflogen, denn die Grafik erschien mir schon aussagekräftig genug. Hier möchte ich nochmal meine Gedanken festhalten. In meinem letzten Kommentar dort schrieb ich:
Ich verstehe das so, daß man seine bestehenden Ansichten radikaler vertreten soll, also mehr eigene Meinung durchzusetzen versuchen, weniger auf andere zugehen. Deshalb lehne ich das ab.
Ravenbird entgegnet darauf:
Da ist nicht das geringste von Gewalt gesagt. Da steht was davon für die Interessen von sich uns seinen Mitmenschen einzutreten. Da steht etwas von Solidarität, Kommunikation und Organisation. Achso und wenn Du den Artikel noch mal ganz genau ließt, so wirst Du erkennen das das mit einer totalitären, gewaltbereiten Schiene so rein gar nichts zu tun hat.
Im ursprünglichen Text schrieb Ravenbird unter anderem:
Deshalb rufe ich dazu auf das Ihr selbst Euch radikalisiert! Tretet radikal für Euch und Eure Mitmenschen sowie Eure gemeinsamen Interessen ein. Nein nicht für Deutsche oder die Deutsche Nation! Für Euch selbst, für Eure Familie, Eure Freunde, Eure Bekannten, Nachbarn und all jene in Eurer Umgebung. Dabei muss es egal sein welcher Hautfarbe sie sind, welche Sprache sie sprechen und woher sie kommen.
Was mich hier stört? Das „muß“. Denn es widerspricht dem vorherigen Aufruf, für die eigenen Interessen und die der Mitmenschen einzutreten. Was meine Interessen sind entscheide ich, und nicht ein anderer. Ravenbird ist hier, wahrscheinlich ohne es zu merken, auf einem paternalistischen Weg: Er ist von seinen Ansichten überzeugt und will nun, daß alle anderen diese Ansicht auch als richtig anerkennen und „radikal“ an ihrer Umsetzung arbeiten.
Ich verstehe ja das Grundanliegen, und es ist sicher nicht schlecht gemeint. Aber die Grundstruktur des Aufrufs birgt eben – und darauf will ich hinweisen – die Negierung der Aussage in sich, was bleibt ist Aktionismus, dessen Richtung nicht ganz klar ist.
Ein anderes, grundsätzliches Problem, es klingt in meinem obigen Selbstzitat an ist, daß ich mir in letzter Zeit Gedanekn mache bezüglich des Zusammenhalts der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der jeder nur seine eigenen Interessen umzusetzen sucht, wird über kurz oder lang auseinanderbrechen. Das wäre an sich noch kein Problem, wenn diese Bruchstellen nicht genau die Stellen wären, an denen später Konflikte auftreten können, die schnell auch mit gewalt ausgetragen werden können. Das ist mein Problem.
Mein alter Religionslehrer machte immer einen Unterschied zwischen der Pluralität und einem Pluralismus in der Gesellschaft. Pluralität ist demnach wichtig und richtig, denn die Einheitsgesellschaft, in der jeder das Gleiche zu wollen hat, was von oben als gut und richtig bestimmt wurde, ist eine Tyrannei, die Menschen sind unterschiedlich und sollen es auch sein dürfen. Ein Problem wird es, wo die Pluralität sich zum Pluralismus wandelt, wo die Diversität der Gesellschaft sich „radikalisiert“, wo jeder radikal für das selbst als richtig angesehene Ideal eintritt und keiner mehr in der Lage ist, auf den anderen zuzugehen und mit ihm nach einem Modus zu suchen, unter dem beide zusammenleben können.
Ich weiß nicht, war es die letzte oder die vorletzte US Präsidentenwahl, da wurde in der Berichterstattung davon gesprochen, daß die jeweiligen Parteien vor allem danach streben, ihre Anhänger zum Wahlgang zu motivieren: Wer mehr seiner Anhänger dazu bringt, den Arsch zu heben und ihre Stimme abzugeben, der würde gewinnen. Überzeugung schien gar keine Rolle zu spielen. In der Zeit danach bekam ich den Eindruck, daß es auch bei uns nicht anders ist.
Was ist das für eine Vorstellung von Demokratie!
Da hofft der Kandidat der einen Partei, daß die Anhänger des anderen Kandidaten nicht in so hoher Zahl wählen gehen, damit er selbst gewinnt. Er hofft also, man lasse sich das auf der Zunge zergehen, daß die demokratische Willensäußerung in gewissen Kreisen nicht stattfindet! Er hofft quasi auf ein Versagen des demokratischen Priinzips zu seinen Gunsten. Und der (oder sein Kontrahent der ähnlich denkt) soll dann als demokratisch gewählter Präsident fungieren! Was für ein Hohn!
Übrigens: Mir wurde das nur bei der Berichterstattung über die US Wahlen bewußt, ich denke nicht, daß unsere Politiker vor solchen Gedanken gefeit sind.
Mein Aufruf wäre also: Radikalisiert Euch nicht! Geht erst einmal auf die anderen zu, versucht, sie zu verstehen, ihre Ängste und Hoffnungen, die sie antreiben. Das mag zuerst verstörend sein, wir haben uns weit voneinander entfernt. Es wird nicht leicht sein, wenn Autonome und Neonazis das Gespräch miteinander suchen, und im gegenseitigen Austausch wird auch mancher vielleicht seine bisherige Position verlassen oderrelativieren müssen, weil er mit neuen Lebenserfahrungen konfrontiert wird, die er mit seinem bisherigen Weltbild nicht einsortiert bekommt.
Deshalb würde ich Ravenbird durchaus zustimmen, wenn er schreibt:
Es geht um Zusammenhalt, um Solidarität. Es geht darum den Teufelskreis unseres Systems, aber auch jenen des Kapitalismus zu durchbrechen!
Wobei, ich denke das Problem liegt tiefer als der Kapitalismus, daß man mit Andersdenkenden nicht (mehr?) redet. Trotzdem ist dies ein Teufelskreis: Man redet übereinander und sucht im jeweils anderen das Problem zu erkennen für die bisherige Misere. Ob die Sündenböcke dabei die Bänker, Nazis, Linken, Gutmenschen, Muslime oder Juden sind (hab ich wen vergessen) spielt an sich keine Rolle, denn keiner geht auf die anderen zu und versucht rauszufinden, wieso die so sind wie man meint daß sie sind (vielleicht sind die ja ganz anders).
Es ist gut, wenn jemand klare Überzeugungen hat und sich dazu bekennt und für sie einsteht. Aber wenn es darum geht
jenen die derzeit im Sattel sitzen und Teil des Systems sind zu zeigen, dass sie und ihr Platz alles andere als sicher sind!
dann frage ich mich was dabei rauskommen soll als einfach nur Rache für begangene Fehler und Austausch der bisherigen Führung durch eine dem Aufrufer genehmere. Die wird von anderer Seite auch wieder kritisiert werden, und so geht der Konflikt weiter.
Durchbrechen wir das! Machen wir mal was anders! Suchen wir das Gespräch miteinander und den Konsens, statt uns im Konflikt zu zerreiben und noch mehr Not und Leid zu produzieren, als wir eh schon haben!