Gedanken zu Matthäus 8, 18-27
Das Gespräch vom Ernst der Nachfolge (Matt 8, 18-22) und die Sturmstillung (Matt 8, 23) sind als kompositorische Einheit zu betrachten und auszulegen.
Denn die Geschichte von der Sturmstillung beginnt bereits in V. 18: Hier erteilt Jesus den Auftrag, ans andere Ufer zu fahren, er ist der Einleitungsteil zu V. 23. In den Versen da-zwischen werden Gespräche von Jesus mit zwei Personen geschildert.
Zunächst zur Einleitung, dem Gespräch mit den zwei Personen. Es vermittelt Wichtiges darüber, was „Jesus nachfolgen“ bedeutet. Der erste, mit dem Jesus spricht, ist ein Schriftgelehrter, der ankündigt, Jesus überall hin folgen zu wollen. Jesus verwehrt es ihm nicht, lässt ihn aber auch nicht über die Folgen im Unklaren: Das, was selbst Tiere haben, einen dauerhaften Rückzugsort, wo sie Kraft schöpfen können, ist ihm und denen, die ihm nachfolgen, verwehrt.
Dem Schriftgelehrten wird kein behütetes, sorgenfreies Leben in Aussicht gestellt. Deutlich wird gesagt: Folgst du Jesus, verlässt du sichere Rückzugsorte auf Erden.
Die zweite Person, die Jesus anspricht, ist bereits ein Jünger. Er will Jesus jetzt nachfolgen und dazu auch seine Familie verlassen. Matthäus scheint hier von zwei Arten von Jüngern auszugehen: Die einen waren die „klassischen“ Jünger, wie z. B. die 12: Menschen, die das Wanderleben Jesu teilten, ihm körperlich nachfolgten.
Doch daneben hat es offenbar schon andere gegeben, die sesshaft bei ihren Familien lebten, aber schon als Jünger bezeichnet wurden. So-wohl Schriftgelehrter als auch Jünger teilen zum Zeitpunkt des Gesprächs das Wanderleben Jesu noch nicht. Dennoch gilt der eine schon als Jünger. Entscheidend dafür, ob man als Jünger Jesu gilt, ist also nicht, ob man das Wanderleben Jesu teilt. Die Art, wie sie Jesus anreden, gibt einen Hinweis darauf, worauf es nach dieser Erzählung beim Jüngersein ankommt. Der Schriftgelehrte spricht Jesus mit „Lehrer“ bzw. „Meister“ an, der Jünger dagegen mit „Herr“. Diese Anrede werden später auch die Jünger im Boot nutzen. Nicht der Aufenthaltsort entscheidet darüber, ob jemand Jünger ist, sondern ob er bereit ist, Jesus als Herrn anzuerkennen.
Doch dann kam der Punkt, an dem der Jünger sein Leben verändern wollte. Alles, was wir über ihn noch erfahren ist, dass sein Vater vor kurzem verstarb. Möglich, dass es genau diese Veränderung war, die dazu führte, dass er in Bezug auf sein Jüngerdasein etwas verändern wollte. Eine einzige Einschränkung macht er noch: Er will zuvor seinen Vater begraben, ehe er sein Leben radikal verändert. Jesus aber sagt: Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber folge mir nach. Diesen Jünger fordert Jesus also auf, sofort mit ihm zu kommen, nachdem er selbst – mit Einschränkung – zugesagt hat, mit ihm zu ziehen.
Hier sieht man einen deutlichen Unterschied zum Schriftgelehrten: Der kannte vielleicht die Lehren von Jesus, und war auch bereit, ihn als Lehrer anzunehmen, wie die Anrede „Meister“ zeigt. Doch in Bezug auf das Leben, das ihn erwartet, ist er offenkundig noch ahnungslos. Deshalb verwehrt Jesus ihm zwar nicht, ihm zu folgen, macht ihm aber deutlich, was die Konsequenzen sind.
Bei dem Jünger sieht das anders aus. Ihm muss offenbar nicht mehr gesagt werden, was ihn in der Zukunft an der Seite Jesu erwartet. Doch noch lässt er sich von seiner Ver-gangenheit bestimmen, statt voll und ganz auf Jesus zu setzen. Erst die Vergangenheit regeln – dann Jesus folgen. Doch Jesus sagt: Lass die Vergangenheit hinter dir. Folge mir nach.
Der Jünger wird sich bei seiner Familie nicht mehr sehen lassen können, wenn er seinen Vater unbestattet zurücklässt. Doch Jesus folgen kann eben auch heißen, Vertrautes endgültig hinter sich zu lassen. Der Jünger bekommt hier eine erste Ahnung davon, was es heißt, wenn Jesus sagt: „Der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann“.
Nach der Aufforderung „Folge du mir, und lass die Toten ihre Toten begraben“ ist die Ein-leitung zur Sturmstillung beendet, der Hauptteil, die Sturmstillung beginnt.
Sie wird eingeleitet mit den Worten: „Und Jesus stieg in das Boot und seine Jünger folgten ihm“. Es wird hier also direkt an V. 18 angeknüpft. Das Gespräch zwischen Jesus, Schriftgelehrtem und Jünger umfasst auf Textebene nur einen kurzen Moment zwischen dem Befehl Jesu, ans andere Ufer zu fahren und dem Beginn der Umsetzung des Planes. Nichts spricht dafür, dass sich die Szenerie zwischen V. 18 und 23 verändert hat. Man kann also davon ausgehen, dass die beteiligten Personen noch die gleichen sind wie zuvor. Das bedeutet: Auch der Jünger, dem Jesus aufgetragen hat, ihm nachzufolgen, ist noch dort. Ich werde ihn im weiteren Text Unbekannter Petrus nennen.
Es wird mit keiner Silbe gesagt, dass der Unbekannte Petrus der Aufforderung Jesu nicht gefolgt wäre. Wenn sich an anderen Stellen Menschen von Jesus abwenden, wird dies auch festgehalten. Das alles spricht dafür, dass auch der Unbekannte Petrus ins Boot gestiegen ist. Er hat seinen Vater tatsächlich zurückgelassen und ist damit der Aufforderung Jesu nachgekommen. Die Sicherheit seiner Familie hat er verlassen und ist genau das Risiko eingegangen, das in V. 20 beschrieben wird: Er wird nun das Los Jesu teilen, anders als Fuchs und Vogel keinen festen Rückzugsort zu haben. So eine Entscheidung trifft man nicht ohne sehr großes Vertrauen in Jesus. Er ist uns hier ein Beispiel für großes Vertrauen in Jesus und große Leidenschaft für Jesus. Hierin gleicht er Petrus, der auch alles hinter sich ließ und Jesus leidenschaftlich folgte.
Mitten auf dem See kommt es zum Sturm, das Boot läuft voll Wasser – und Jesus liegt im Boot und schläft. Er, der kurz vorher noch sagte, er hat keinen Ort, wo er sein Haupt niederlegen kann, hat sein Haupt niedergelegt. Doch der vorige Vergleich mit Vögeln und Füchsen zeigte ja schon: Es ging bei den Worten nicht darum, dass er nie zur Ruhe kommt, sondern darum, dass er auf Erden keinen Platz hat, an den er dauerhaft zurückkehrt.
Die Jünger erfasst bei dem Sturm Angst. Obgleich einige erfahrene Fischer unter ihnen sind, bekommen sie das Boot nicht unter Kontrolle. Sie wecken Jesus und rufen: Herr, hilf uns, wir gehen unter! Alle haben Angst – alle werden von Jesus anschließend als „Kleingläubige“ bezeichnet. Einschließlich Unbekannter Petrus. Auch er, der doch kurz zuvor noch als so ein leidenschaftlicher Jünger gezeichnet wird, sich durch so großen Glauben ausgezeichnet hat, wird „Kleingläubiger“ genannt. An ihm, dem Unbekannten Petrus, dem Namenlosen, wird gezeigt, dass das Leben eines Jüngers immer zwischen diesen beiden Polen stattfindet – leidenschaftliche Risikobereitschaft einerseits, furchtvolles Verzagen andererseits. Später wird dieselbe Spannung ebenso deutlich an Petrus gezeigt werden. Doch zuerst wird sie an diesem namenlosen Jünger gezeigt, den ich deshalb Unbekannter Petrus nenne.
Die Jünger bitten Jesus um Hilfe, als sie das Boot nicht mehr unter Kontrolle bekommen. Der Unbekannte Petrus erfährt, kaum dass er mit dem Nachfolgen Ernst gemacht hat, was es bedeutet, bisherige Schutzräume zu verlassen. Es wird deutlich gemacht, dass Nachfolgen eben auch bedeuten kann, bisherige Schutzräume zu verlassen und dann unversehens in heftige Stürme zu geraten. In der Situation der Jünger auf dem Schiff wird erzählerisch ausgemalt, was vorher angekündigt wurde: Wer Jesus nachfolgt, ist nicht davor gefeit, in Stürme zu geraten. Einen Rückzugsort wie Fuchs und Vogel hat er nicht. Sein Rückzugsort ist Christus selbst, an den er sich wendet.
Die Antwort Jesu ist merkwürdig. Sie wecken ihn, zeigen doch gerade, dass sie ihm zutrauen, ihnen zu helfen – und er nennt sie kleingläubig. Vielleicht wird das etwas klarer, wenn man den Beginn des Kapitels liest. Geschildert wird die Heilung des Knechtes eines Hauptmannes. Der Hauptmann kommt zu Jesus, um ihn um Heilung für seinen Knecht zu bitten. Jesus will daraufhin das Haus des Hauptmannes aufsuchen, doch dieser glaubt fest daran, dass Jesus nicht selbst anwesend sein muss, sondern seinen Knecht durch ein Wort aus der Ferne heilen kann. Jesus ist beeindruckt vom Glauben dieses Mannes und heilt seinen Knecht.
Matthäus stellt hier zwei Situationen nebeneinander, in denen Jesus nach menschlichem Ermessen nichts für die Menschen tun kann – für den Knecht nicht, weil er noch nicht da ist, für die Jünger nicht, weil er ja schläft. Bei dem Hauptmann begegnet uns Vertrauen, das so grenzenlos ist, dass davon ausgegangen wird: Ein Wort Jesu genügt, selbst wenn er nicht vor Ort bei dem Kranken ist. Ganz anders im Boot: Wenn Jesus nicht wach, d. h. nicht ganz da ist, ist er machtlos und muss erst geweckt werden. Das könnte erklären, warum die Jünger hier als kleingläubig bezeichnet werden, obwohl sie ihm doch offenbar zutrauen, ihnen zu helfen.
Für den Unbekannten Petrus geht die Achterbahnfahrt in der Nachfolge weiter: Voller Leidenschaft ist er in die Nachfolge aufgebrochen, erfüllt von Vertrauen in Jesus, das ihm ermöglicht, alles hinter sich zu lassen. Doch auch dieser Jünger muss die Erfahrung machen, dass es im Glauben auf und ab geht, dass auf Zeiten größten Vertrauens auch Zeiten des Kleinglaubens folgen können.
Er macht jedoch auch die Erfahrung der Ansprache. Er spricht gemeinsam mit den anderen Jüngern Jesus an – und lässt sich von ihm ansprechen. Ganz ohne jedes Schön-reden stellt Jesus – auch wenn es eine Frage ist – den „Kleinglauben“ der Jünger fest. Das ist vermutlich keine schöne Erfahrung. Doch auf die Ansprache Jesu folgt der Beistand Jesu. Kommt es im Glaubensleben zu Zeiten der Angst, des Kleinglaubens, kann es uns wie dem Jünger gehen: Uns wird unser Kleinglaube auf den Kopf zugesagt – und der Beistand Jesu folgt auf dem Fuße. Eine ermutigende Aussicht, wie ich finde.