(18aDenn ich bin arm und elend, 18bder HERR aber sorgt für mich)

18cMein Helfer und Erretter bist du, 18dmein Gott, säume nicht!

Da morgen ein anderer Teil des Psalmes Tageslosung ist, möchte ich mit einer kurzen Darstellung der Grobstruktur des Psalms beginnen.

Im 1. Abschnitt (V. 1-5) wird von einer durch JHWH überstandenen Lebensgefahr berichtet und angekündigt, dass deshalb ein Loblied auf JHWH gesungen werden soll und es dem, der auf Gott hofft, wohl ergehen soll.

Im 2. Abschnitt V. 6-11 erfolgt dann das Loblied. Zwischen V. 11 und 12 wird eine Verbindung aufgebaut, indem in beiden von der Güte und Treue gesprochen wird. In V. 11 wird sie festgestellt, in V. 12 an sie appelliert. Am Appell ist erkennbar, dass die „Stimmung“ nun kippt.

V. 12 ist Bestandteil des 3. Abschnitts V. 12-18. Er leitet über zu einem Bittgebet, in dem deutlich wird, dass die jetzt aktuelle Situation des Beters von Leid erfüllt ist. In allem Leid aber bleibt die Zuversicht, dass Gott helfen kann. Der heutige Losungstext ist der Schluss des Psalmes.

Mir hat die Aufteilung des Verses in vier Teile bei der Beschäftigung mit dem Text geholfen. V. 18a führt die Situation des Beters vor Augen: Er ist arm und elend. Der Text ist präsentisch formuliert, anders als vorige Teile des Psalms. Ich gehe deshalb davon aus, dass der Beter vermitteln möchte: Ich bete aus einer tatsächlichen Situation der Not heraus. V. 18b-c kann man als Vertrauensbekundung des Beters in der Not verstehen.  Der Beter rechnet fest damit, dass Gott hilft. Ich habe noch nicht herausgefunden, ob sich „Helfer“ und „Erretter“ gegenseitig verstärken sollen oder ob hier verschiedene Aspekte eines „allgemeinen“ Helfens gemeint ist. Ob sich z.B. „helfen“ auf relativ harmlose Dinge beschränkt und „retten“ in Bezug auf lebensbedrohliche Situationen benutzt wird. Da muss ich nochmal genauer nachgucken – oder hat jemand von euch da Ahnung? Wie dem auch sei, dass Gott dem Beter hilft, ihn rettet, steht für diesen jedenfalls außer Frage.

Bis hierhin lautet also das Fazit: Unabhängig davon, dass es schlechte Zeiten im Leben geben wird, ermutigt der Beter dazu, Gott zu vertrauen. Ich finde, das ist oft viel leichter gesagt als getan. Denn ich kenne durchaus Situationen, in denen ich denke: Ich habe grade nicht den Eindruck, dass Gott sich um mich kümmert, das Vertrauen fällt mir schwer. Wie kann ich mit diesem Gefühl umgehen? Der folgende V. 18d ist eine Möglichkeit.

Das „Säume nicht“ ist ein Jussiv, der mit al verneint wird (muss bald lernen, wie das Hebräischschreiben hier geht…). Denkbar ist hier rein grammatikalisch ein Verbot, eine Warnung, eine negierte Bitte, ein negierter Wunsch. Da ich erstmal ausschließe, dass der Beter Gott etwas verbieten oder ihn warnen möchte (wäre doch leicht größenwahnsinnig, wenn ich das richtig im Kopf habe, „warnt“ nur Mose JHWH im Zuge der Geschichte des goldenen Kalbes davor, das Volk zu vernichten, oder?), gehe ich hier mal von einer negierten Bitte aus. Wenn der Beter zu Gott sagt: „Säume nicht!“, so heißt das doch im Umkehrschluss: „Im Augenblick habe ich, der Beter, das Gefühl, dass du, Gott, nichts für mich tust, mir vielleicht sogar fern bist“. Dem Beter ist das Gefühl, dass sich Gott grade nicht um ihn kümmert, nicht fremd – und er zeigt mir, wie ich damit umgehen kann: Es nicht verbergen, sondern es vor Gott zur Sprache bringen. Das stellt nicht unser grundsätzliches Vertrauen in Frage, sondern nimmt den „temporären Zweifel“ ernst. Ich glaube, das ist eines der größten Geschenke, die uns gegeben sind: Wir haben die Freiheit, mit allem, was uns bedrückt, vor Gott zu treten, mit Vertrauensbekundungen und Lob ebenso wie mit Zweifel und allem, was unser Leben bitter macht, auch mit Trauer, Zorn oder Verzweiflung.

Wie aus den Kommentaren ersichtlich, muss ich noch einen wichtigen Aspekt nachtragen: Mit V. 18 schließt der Psalm. Zuvor wurde bereits geschildert, dass der Beter bereits in Nöten war, aus denen JHWH ihn errettet hat. Sein Vertrauen auf JHWH ist also nicht unbegründet, sondern kann aus den Erfahrungen in der Vergangenheit gespeist werden.

Comments

Comment by Bundesbedenkenträger on 2012-02-16 19:34:59 +0100

Was den Jussiv angeht ein Gedanke: Wieso sollte der Beter Gott nicht etwas verbieten wollte? Wieso sollte nur Mose so „größenwahnsinnig“ gewesen sein? Ich kenne ein wenig Deine Begeisterung für Mose, deshalb möcht ich das hier nochmal gezielt anzweifeln.
Ich hab mal meinen Jenni ausgegraben. Und wenn ich da nachsehe, dann steht da unter 10.3.3 af Seite 121 das, was Du meintest, nämlich daß Jussiv oder Kohortativ mit אַל für die Verneinung im Aufforderungssatz benutzt wird, während לֹא mit AK, PK oder PK-cons den Aussagesatz verneint.
Interessant ist hier der Hinweis, daß der Imperativ nie verneint wird.
Ob es sich nun um eine Bitte, eine Warnung oder ein Verbot handelt, mß der Kontext klären (auch bei Mose ;)). Wobei ich es fraglich finde, ob diese Unterscheidng, die wir doch von unserem deutschen Sprachverständnis aus treffen, dem hebräischen Sprachverständnis entspricht. Faktisch haben wir nur eine Form der Ausdrucksweise, ergo ist dem Hebräer vielleicht gar kein Unterschied zwischen einer Bitte und einem Befehl in dieser Form bewßt gewesen. Diese Differenzierung ist im vorliegenden Fall auch nicht nötig, denn die Situation ist klar: Dem Beter geht es schlecht, er möchte von Gott Hilfe, und zwar möglichst pronto. (Der Fokus liegt hier auf der Geschwindigkeit, nicht auf dem Forderungsaspekt)
Viel interessanter finde ich hier, daß dies das Ende des Psalms ist. Eine Positive Wendung kommt – wie in vielen anderen Psalmen – hier nicht mehr auf die Bitte um Hilfe. Vielmehr beschreibt der Psalm vorher die Zeit, als es dem Beter gut ging, als Gott ihm schon einmal half und er danach wohl ein recht gutes Leben führte, bis das ganze in VV12f kippt. Er bittet um weitere Hilfe und erwähnt Leiden ohne Zahl, sowie Sünden, die er nicht mehr überblicken kann.
Insofern hat er es einfacher, mit dem, was ihn bedrückt vor Gott zu treten, denn Gott hat ihn schon einmal gerettet. Oder es ist gerade deshalb schwer, denn beim ersten Mal ist nicht von Sünden die Rede…

Comment by Bonifatz on 2012-02-16 20:14:24 +0100

Das mit dem Sprachverständnis beim Jussiv ist ein guter Punkt. Und auch den Hinweis mit dem Ende des Psalms und den Konsequenzen bezüglich des vor Gott Tretens muss ich mir nochmal durch den Kopf gehen lassen. Es gibt übrigens noch einen weiteren Psalm, der mit exakt den gleichen Worten endet, Psalm 70 war das, glaube ich.

Comment by Bundesbedenkenträger on 2012-02-16 23:10:58 +0100

Da gibt es noch mehr Parallelen.
Abgesehen von Vers 1 entspricht der ganze Psalm 70 fast wörtlich Psalm 40:
Ps 70, 2:
אֱלֹהִ֥ים לְהַצִּילֵ֑נִי יְ֝הוָ֗ה לְעֶזְרָ֥תִי חֽוּשָֽׁה׃
Ps 40, 14:
רְצֵ֣ה ֭יְהוָה לְהַצִּילֵ֑נִי יְ֝הוָ֗ה לְעֶזְרָ֥תִי חֽוּשָׁה׃

Ps 70, 3:
יֵבֹ֣שׁוּ וְיַחְפְּרוּ֮ מְבַקְשֵׁ֪י נַ֫פְשִׁ֥י יִסֹּ֣גוּ ֭אָחוֹר וְיִכָּלְמ֑וּ חֲ֝פֵצֵ֗י רָעָתִֽי׃
Ps 40, 15:
יֵ֘בֹ֤שׁוּ וְיַחְפְּר֨וּ׀ יַחַד֮ מְבַקְשֵׁ֥י נַפְשִׁ֗י לִסְפּ֫וֹתָ֥הּ יִסֹּ֣גוּ ֭אָחוֹר וְיִכָּלְמ֑וּ חֲ֝פֵצֵ֗י רָעָתִֽי׃

Ps 70, 4:
יָשׁוּבוּ עַל־עֵ֣קֶב בָּשְׁתָּ֑ם הָ֝אֹמְרִ֗ים הֶ֘אָ֥ח׀ הֶאָֽח׃
Ps 40, 16:
יָשֹׁמּוּ עַל־עֵ֣קֶב בָּשְׁתָּ֑ם הָאֹמְרִ֥ים לִ֝֗י הֶאָ֥ח׀ הֶאָֽח׃

Ps 70, 5:
יָ֘שִׂ֤ישׂוּ וְיִשְׂמְח֨וּ׀ בְּךָ֗ כָּֽל־מְבַ֫קְשֶׁ֥יךָ וְיֹאמְר֣וּ ֭תָמִיד יִגְדַּ֣ל אֱלֹהִ֑ים אֹ֝הֲבֵ֗י יְשׁוּעָתֶֽךָ׃
Ps 40, 17:
יָ֘שִׂ֤ישׂוּ וְיִשְׂמְח֨וּ׀ בְּךָ֗ כָּֽל־מְבַ֫קְשֶׁ֥יךָ יֹאמְר֣וּ ֭תָמִיד יִגְדַּ֣ל יְהוָ֑ה אֹֽ֝הֲבֵ֗י תְּשׁוּעָתֶֽךָ׃

Ps 70, 6:
וַאֲנִ֤י׀ עָנִ֣י וְאֶבְיוֹן֮ אֱלֹהִ֪ים חֽוּשָׁ֫ה־לִּ֥י עֶזְרִ֣י וּמְפַלְטִ֣י אַ֑תָּה יְ֝הוָ֗ה אַל־תְּאַחַֽר׃
Ps 40, 18:
וַאֲנִ֤י׀ עָנִ֣י וְאֶבְיוֹן֮ אֲדֹנָ֪י יַחֲשָׁ֫ב לִ֥י עֶזְרָתִ֣י וּמְפַלְטִ֣י אַ֑תָּה אֱ֝לֹהַ֗י אַל־תְּאַחַֽר׃

Psalm 70 kopiert also gerade die Teile, die das Ende von Ps 40 bilden. Oder das Ende von Ps 40 ist bei Ps 70 abgeschrieben, von wegen lectio brevior potior. 😉