Gestern abend ist es mir wieder bewußt geworden: Überhangmandate. In Baden-Württemberg gibt es ein Wahlsystem für die Landtagswahlen, das dem Nicht-Ländle-Bürger Verständnisschwierigkeiten bereitet. Wie genau das da funktioniert, hab ich nicht ganz verstanden und erklären könnte ich es noch weniger, darum geht es mir auch gar nicht. Mir geht es um die Überhangmandate, die es ja auch auf Bundesebene gibt und dort bereits in die Kritik gerieten. Auch wenn es tatsächlich weniger um die Mandate als um das negative Stimmgewicht geht, muß das Wahlrecht reformiert werden.
Aus den KOmmunalwahlen in rheinland-Pfalz kenne ich das System von Kumulieren und Panaschieren. Das gibt es andernorts zwar auch, aber persönlich habe ich dort noch nicht gewählt, zumindest nicht Kommunalwahl.
Interessant finde ich vor allem das Panaschieren: Es geht darum, daß man weder eine ganze Liste wählt, wie mit der Zweitstimme bei Bundestagswahlen, noch darum, daß man einem einzigen Kanditaten einer Partei (oder unabhängig) in einem Wahlkreis. Statt dessen hat man verschiedene Listen aus denen man sich diejenigen Politiker aussuchen kann, die man für geeignet hält. Wieso nicht Leuthheusser-Schnarrenberger wählen, wenn man ihr die Stimme geben kann und nicht den Gros der neoliberalen Wirtschaftsfundis ihrer Partei mitwählen muß? Statt dessen hat man so viele Stimmen, wie der Bundestag Sitze hat, und man verteilt sie auf die Kandidaten, die man für die Fähigsten hält. So kann man seinen Wunschbundestag zusammenstellen, und aus dem Mittel aller Wunschbundestage wird dann ermittelt, wer denn nun wirklich in den Bundestag kommt. Wenn neben dem Panaschieren auch das Kumulieren zum Einsatz kommt, kann man auch mehrere Stimmen (bei der rheinland-pfälzischen Kommunalwahl maximal 3) einem Kandidaten geben, um seine Chancen zu erhöhen. Natürlich kann man dann keinen kompletten Wunschbundestag zusammenstelen, da die zusätzlichen Stimmen ja an der Gesamtzahl fehlen.
Und für diejenigen, denen all dies zu kompliziert ist, gibt es weiterhin die Möglichkeit, Parteien zu wählen, die ja schließlich die Listen zusammengestellt haben und die Kandidaten in die Reihenfolge gebracht haben, in der sie auf dem Wahlzettel stehen.
Man könnte auch aufräumen mit diesen länderspezifischen Listen. Wenn ich nicht in Baden-Württemberg wohne, kann ich weder Cem Özdemir noch Wolfgang Schäuble wählen, egal wie gut oder schlecht ich sie finde, weil beide eben dort auf der Landesliste stehen und nur dort gewählt werden können. Ich kann nichts tun, um sie in den Bundestag zu bringen. Die Vertretung der Landesinteressen auf Bundesebene besorgt der Bundesrat, wieso also keine Bundesliste bei den Parteien? So könnte ich, egal wo ich wohne, jeden deutschen Politiker wählen, den ich für fähig halte, mich zu vertreten, ich müßte nicht im gleichen Bundesland wohnen.
Gegen das Panaschieren auf Bundesebene spricht die komplizierte Durchführung. Eine Auszählung dauert ungleich länger als beim derzeitigen Wahlmodus. Überhaupt die Praktikabilität: In der Regel haben die Listen mindestens so viele Kandidaten, wie Sitze zu vergeben sind. Bei mindestens 598 Abgeordneten und der doch nicht geringen Anzahl an Parteien in Deutschland kommt man schnell auf mehrere tausend Kandidaten, die man auf dem Stimmzettel unterbringen muß. Das dürften dann mehrere Quadratmeter Stimmzettel ergeben.
Eine Möglichkeit zur Abhilfe könnten vielleicht durch technische Maßnahmen erfolgen, mit allen damit verbundenen Problemen. Alternativ könnte man darüber nachdenken, inwieweit es problematisch wäre, die Wahlzettel, die dann wohl Wahlbücher wären, dem Wähler für ein paar Tage mit nach Hause zu geben, damit der Wähler sich noch über die Kandidaten informieren kann. Bei der Briefwahl ist das bisher ja schon prinzipiell der Fall. Sicherlich besteht die Gefahr der Beeinflussung durch das persönliche Umfeld, wenn der Wahlzettel bzw das Wahlbuch zu Hause liegt.
Trotz all der Schwierigkeiten, die damit verbunden wären, denke ich, daß dies die Möglichkeiten der Bürger, die Politik zu beeinflussen, erhöhen würde. Einzelne umstrittene Politiker können abgewäht werden, auch wenn man die Partei unterstützen will. Oder Politiker die man für gut erachtet, die aber in der „falschen Partei“ sind, könnte man trotzdem unterstützen.
Sicherlich, die Parteien würden dadurch geschwächt werden und die einzelnen Politiker gestärkt, was auch immer populistisch ausgenutzt werden kann. Da aber der Politiker nun direkter in der Schußlinie steht, erwarte ich, daß die Arroganz der Macht, die einige an den Tag legen, abnehmen wird.
Auf den zweiten Blick würden die Parteien sogar Gewinn ziehen können. Da die ganzen Machtspiele vom Bereich der Partei zum persönlichen Bereich der Politiker wandern würden, wären die Parteien in der Lage, unabhängig vom Unmut über bestimmte Vertreter ihr Profil auszugestalten. Sie könnten sich wieder auf ihren Auftrag laut GG konzentrieren, nämlich bei der politischen Willensbildung mitzuwirken. Ihr Interesse, sich als Wahlvereine für bestimmte Zugpferde zu betätigen, die den Machterhalt sichern sollen, dürfte schrumpfen, da der Bürger die Macht direkt an den Politiker geben kann, ohne Umweg über die Partei, die nur indirekten Einfluß hat.
Ein Allheilmittel ist es sicherlich nicht, aber unter Umständen ein Schritt auf dem Weg zu mehr direkter Demokratie, ohne gleich die Freiheit populistisch auszuhebeln.
Comments
Comment by madove on 2011-04-17 08:09:42 +0100
Das mit dem Wahlzettel-mit-nach-Hause-nehmen aka Briefwahl praktiziere ich bei allen Wahlen, die kein einfaches Kreuzchen sind, aus genau diesem Grund.
Bei uns sind das die Kommunalwahlen, wo es wirklich von Nutzen ist, wenn man die Leute kennt oder versucht, etwas über sie herauszufinden. Und es ist nett, sich dann mit Familie oder Freunden und einem großen Stapel rosa (warum eigentlich rosa?!) Listen und Kaffee und Kuchen zusammenzusetzen und die Kandidaten durchzugehen, sich gegenseitig Anekdoten über sie zu erzählen, über die lustigen Selbstdarstellungen in den Wahlwerbeheftchen zu lachen und sich Auszüge aus den Wahlprogrammen vorzulesen. Seine Kreuzchen macht dann natürlich jeder allein, ge- und daheim, aber es kommen eine Menge nützlicher Bleistiftnotizen zusammen…
Comment by Bundesbedenkentraeger on 2011-04-17 10:02:42 +0100
Hmm, ich ging bei den Kommunalwahlen bisher immer ins Wahllokal. Ich komm vom Dorf und da kennt man die Leute, die aufm Stimmzettel stehn eh schon. Aber danke für die Anregung, die Informationsseite in Gesellschaft durchzuführen.