Ein mir nicht weiter bekannter Dirk Winkler hat auf der Homepage des Humanistischen Pressedienstes einen Text veröffentlicht, in dem er sich mit den „Schmähungen von religiösen Funktionären“ beschäftigt und Thesen bezüglich Theismus und Atheismus aufgestellt, die in der Einleitung des Textes als „selbstbewußt, freundlich und verständlich“ beschrieben werden.

Auch wenn alle drei Attribute stimmen – er bleibt stets freundlich auch bei der Forderung nach Entzug des Rederechts für Religöse, er ist stets selbstbewußt, und ich verstehe auch was er meint, inklusive der aus meiner Sicht falschen Voraussetzungen von denen er ausgeht – möchte ich mit diesem Text auf seine Forderungen und Überlegungen eingehen, ja sie in den Kernaussagen zu widerlegen (refutare) versuchen. Dabei möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß ich mich zwar schon in gewisser Hinsicht als konservativ gläubig verstehe, aber liberal-aufgeklärt denke und somit nicht so einfach zu den Fundamentalisten passe (die mögen mich auch nicht), auch wenn andere das anders sehen werden. Insofern stehe ich vieleicht nicht für das Christentum, das Winkler bei der Verfassung seines Textes vor Augen hatte. Da er die Theisten nicht differenziert, sehe ich dies nicht weiter als Problem an.

Das Ganze kann durchaus etwas bruchstückhaft werden, weil ich vor allem Denkfehler bei Winkler aufzeigen will, und diese nicht immer im Zusammenhang miteinander stehen. Bei einigen Punkten werde ich weiter ausholen, um mich verständlicher machen zu können.

Seinen Einstieg ins Thema wählt Winkler mit der Frage nach der Vermittlung und Werten. Auf religiöser Seite würde behauptet, der Atheismus biete keine Werte an (eine Aussage, der Winkler erst zustimmt, später widerspricht er ihr) im Gegensatz zur Religion und Glauben, die Werte vermittelten, und ihrerseits wichtig für das Miteinander der Menschen sind.

Um es nicht von Anfang an zu Mißverständnissen kommen zu lassen: Religion unterscheidet sich hier strukturell nicht vom Atheismus. Wenn das eine Werte beinhaltet oder vermittelt, so auch das andere. Eine andere Frage ist die Bewertung der jeweiligen Werte.

Winkler geht auf den Vorwurf ein, Nationalsozialismus und Stalinismus seien Resultate atheistischen Denkens. Er meint, beim Nationalsozialismus ruhte „fest im Glauben an einen Gott“. Das hätte ich gerne noch weiter ausgeführt und belegt. Ich sehe nicht, wo es für den Nationalsozialismus strukturell wichtig war, von einem Gott auszugehen. Nach meiner Meinung war Gott dem Nationalsozialismus egal, wenn auch manchmal der Begriff Gott in der Propaganda vorgekommen sein mag. Alles in allem denke ich doch, daß Hitler der eigentliche Gott der Nazis war, dessen Wille allzeit erfüllt werden mußte.

Ähnlich sieht es beim Stalinismus aus. Doch kann sich Winkler, nur weil er meint, hier pseudoreligiöse Züge zu erkennen (die es zweifellos sowohl bei Hitler als auch bei Stalin als auch bei anderen wie etwa Mao gab), diese Diktatoren und Systeme nicht undifferenziert der Religion zuschlagen. Konsequent zu Ende gedacht wäre dann auch Atheismus Pseudoreligion, wenn auch ohne Gott. Zu den strukturellen Übereinstimmungen von Theismen und Atheismen komme ich unten noch einmal zurück.

Weiterhin behauptet Winkler, daß alle Religionen behaupteten, Glaube sei ein absoluter Wert. Das ist zunächst einmal vollkommen falsch. Es gibt Religionen, bei denen der Glaube nebensächlich ist. Viele Religionen legen den Hauptaugenmerk nicht auf den Glauben, sondern auf das Tun. Wenn man sich an die richtigen Ruten und Verhaltensweisen hält, kann der Glaube dann zur absoluten Nebensache werden. Nur weil es im Christentum zu einer großen Wertschätzung des Glaubens gekommen ist (wenn ich es richtig sehe auch viel mehr als in Judentum und Islam, die sonst dem Christentum sehr nahe stehen), kann Winkler also nicht verallgemeinern. Im Weiteren muß angemerkt werden, daß auch im Christentum der Glaube nicht unbedingt als absoluter Wert angesehen werden kann (einzelne christliche Gruppierungen ausgeschlossen, jaja, Verallgemeinerung führt zu falschen Schlüssen).

Wenn Winkler unter einem Wert etwas versteht, das der Mensch tun kann, an das er sich von sich aus halten kann, wie etwa Fleiß oder Ehrlichkeit, dann ist der Glaube wen nicht aus christlicher Sicht, so dann doch wenigstens bei vielen Christen, die sich auf die Reformation berufen, kein Wert (und ich bin mir ziemlich sicher daß es Orthodoxe und Vatikan auch ähnlich sehen, wenn auch mit leichten Abwandlungen). Denn Glaube ist nichts, was der Mensch von sich aus tun kann, sondern von Gott – aus Gnade und Liebe zu den Menschen – geschenkt. Glaube kann Grundlage sein für eine Wertbildung, ist aber selbst kein Wert.

Winkler fährt fort mit der Behauptung, bei der Nichtexistenz Gottes sei der Glaube an Gott ein Negativum. Hier hätte ich gerne ein Erklärung gelesen, es bleibt jedoch bei der Behauptung, er scheint hier ein Atheistisches Dogma zu formulieren, das nicht weiter hinterfragt werden kann und soll (ich hab ja persönlich kein Problem mit der Existenz von Dogmen, irgendwann kann man nicht mehr argumentieren, wenn man nicht in einen Zirkelschluß kommen will, aber es wäre hilfreich, wenn Winkler sagen würde, daß es sich hier um ein Dogma handelt bei dem er nicht bereit ist, weiter zu diskutieren).

Winkler sagt, Religion ist nicht notwendig um Werte zu formulieren. Ich würde es anders ausdrücken: Es braucht zum Formulieren von Werten nicht den Glauben an einen oder mehrere Götter. Im Gegensatz zu Winkler meine ich jedoch, daß auch Atheismus Werte bietet, zumindest der Atheismus, den er beschreibt. Wie gesagt, Religion ist hier von Atheismus nicht unterschieden. Doch wie verschiedene Religionen verschiedene Werte predigen, tun dies auch verschiedene Atheismen. Man muß eben differenzieren. Wie man diese Werte bewertet, hängt dann von der eigenen Religion oder dem eigenen Atheismus ab. So war es für Stalin ein Wert, Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Leider sehe ich ähnliche Ansätze auch bei Winkler, wenn auch nicht begleitet von der Forderung nach einem stalinistischen UNterdrückungssystem, Winkler spricht sich dazu nicht aus. Ich denke auch, daß er es gar nicht will, trotzdem erwecken seine Äußerungen weiter unten den Eindruck, daß er in diese Richtung tendiert. Auch dazu unten mehr.

Winkler meint, für die Entscheidung, wie man Werte begründet ist es wichtig, ob es einen Gott gibt oder nicht, denn gibt es einen Gott, so ist das Unterfangen, Werte außerhalb von ihm zu suchen „irrig und vergebens“. Da kann ich ihm nur zustimmen. Nicht zustimmen kann ich ihm bei seiner Ansicht, man könne Werte nur dann durch Gott begründen, wenn es wirklich einen Gott gibt. Ich kann Werte durch meine Vorstellung von Gott begründen, unabhängig davon, ob es diesen Gott gibt.

Winkler scheint anzunehmen, daß wir entscheiden können, was wirklich ist, dabei gehen wir alle nur mit Beschreibungen der Wirklichkeit um, bei manchen kommt Gott vor, bei anderen nicht. Nun ist Winkler überzeugt, daß seine Beschreibung der Wirklichkeit wahr ist und alle anderen nicht. Prinzipiell ist das auch gar kein Problem, auch ich meine, Recht zu haben und nicht einem Irrtum aufzusitzen, mit meiner eigenen Beschreibung der Wirklichkeit. Nur bin ich mir bewußt, daß andere Menschen die Wirklichkeit anders beschreiben, und daß ich kein Kriterium besitze, zu beweisen, daß ich im Recht bin und die anderen nicht. Deshalb denke ich, jeder soll nach seiner Façon gücklich werden, auch wenn ich natürlich versuche, meinen Glauben zu erklären und darzustellen. Das kommt auf diesem Blog ja immer mal wieder vor.

Winkler macht auf mich den Eindruck, daß er eben nicht nur meint, Recht zu haben, sondern er wähnt sich auch im Besitz eines Kriteriums, an dem er alle anderen Beschreibungen der Wirklichkeit, man könnte etwas altbacken auch von Bekenntnissen sprechen (ja, man kann auch bekennen, daß es keinen Gott gibt), messen kann. Das geht nur, falls man von den gleichen Grundannahmen ausgeht, die dann tatsächlich als Kriterium dienen können. Bei unterschiedlichen Bekenntnissen sind aber auch die Grundannahmen meist unterschiedlich, so setzt einer einen Gott voraus, der andere nicht.

Bei Winkler scheint es eine wahre Beschreibung der Wirklichkeit zu geben, und alle anderen sind falsch und müssen sich der Kritik dieser seiner Wahrheit unterziehen. Wäre Winkler religiös, würde man zu Recht von Fundamentalismus sprechen, auch wenn er, im Gegensatz zu vielen religiösen Fundis, ganz nett und freundlich daher kommt. Wer neben seiner eigenen Wirklichkeit nichts anderes gelten lassen will, der ist Fundamentalist.

Das scheint dann auch in die Frage nach der Beweisbarkeit Gottes reinzuspielen. Winkler will einen Beweis Gottes, um Gott anzunehmen So lange Gott nicht bewiesen ist, ist dieser für Winkler nicht existent (also war die Erde auch flach bevor die Kugelform bewiesen wurde? Man verziehe mir diese spitze Bemerkung). Hier beißt sich jedoch die Katze in den Schwanz. Denn Wissenschaft wird betrieben etsi deus non daretur (lustigerweise gilt dies auch für die Theologie), also als ob Gott nicht gegeben wäre. Wie soll nun die logische Möglichkeit bestehen, Gott nachzuweisen, wenn ich mich in einem System bewegen muß, zu dessen definitorischen Grundlagen es gehört, daß Gott nicht darin vorkommt? Es ist unmöglich, und zwar unabhängig davon, ob es Gott gibt oder nicht. Es ist so unmöglich wie es unmöglich ist, im zweidimensionalen Raum ein Volumen zu beschreiben oder nachzuweisen. Es geht nicht. Der Atheist, der einen Beweis für Gott verlangt, muß logischerweise auch seinen Denkhorizont verlassen, und sich in einen anderen Horizont begeben. Doch da wird dann plötzlich alles anders. Von Beweisen im naturwissenschaftliche Sinn kann man vielleicht gar nicht sprechen (das wäre doch mal Wert zu überdenken, wo wir es grad von Werten hatten), vielleicht kommt hier das Gefühl zum Tragen (das Winkler später plötzlich auch aus dem Zylinder zaubert, ohne zu sagen, wo er es herholt).

Werte können jedenfalls, so meine ich, durch alles mögliche begründet werden. Winkler mag es negativ bewerten, wenn man Werte durch etwas begründet, was in seiner Welt nicht vorkommt. Damit muß an dann leben. Nur muß Winkler dann unter Umständen auch mit dem Fundamentalismusvorwurf leben. Vielleicht ist alles nur ein Mißverständnis, vielleicht läßt es sich klären, dazu gibt es ja Kommentare und Pingbacks 😉

Ein weiteres Dogma Winklers folgt im Text, und zwar die Aussage, daß falsche Annahmen der Wirklichkeit dem Menschen mehr schaden, als sie ihm helfen. Nun, wenn man mal bei Seite läßt, daß er hier wieder davon ausgeht, daß zu entscheiden sei, ob eine Annahme der Wirklichkeit entspricht, also wahr ist, und nicht nur einer bestimmten Wirklichkeitsbeschreibung entspricht, er gibt keine Erklärung dafür ab. Es muß sich um ein Dogma handeln.

Denn wie wäre es denn, nehmen wir a, jemand wäre unheilbar krank, und würde definitiv in 6 Monaten sterben. Ein Wissen darum würde ihm die letzten Monate unter Umständen verdunkeln, er nähme Schaden, würde leiden, auch wenn er von der Krankheit keine Schmerzen hat. Wen er in 6 Monaten einfach umfällt, und bisher immer ein glückliches Leben geführt hat, nimmt er unter Umständen weniger Schaden. Dazu müßte man vielleicht noch definieren, was man als Schaden ansieht. Noch so eine unklare Sache. Das Beispiel ist übrigens das, was mi zuerst in den Sinn kam. Es mag bessere Beispiele geben um zu verdeutlichen, was ich meine: Es könnte unter Umständen besser sein, falsche Annahmen von der Wirklichkeit zu haben. Es sei denn man schließt dies durch Dogmen aus.

Die Vorstellung, die Winkler von der Entstehung heiliger Texte hat, ist dann doch etwas belustigend: Jemand stellt sich hin, schreibt nen Text, deklariert ihn als heilig und unterdrückt damit dann Tausende wenn nicht Millionen. Ich will nicht in Abrede stellen, daß Menschen mit religiösen Texten und durch religiöse Strukturen allgemein unterdrückt wurden. Das fand und findet statt. Aber Texte werden zu heiligen Texten, weil es Menschen gibt, die ihnen, erst einmal ganz ohne Zwang, Heiligkeit zuschreiben. Er mag den Versuch antreten, einen Text schreiben, in als heilig deklarieren, und dann die Jünger zählen und sehen, ob seine Religion Bestand hat. Selbst Sekten fangen meist nicht bei NULL an, sondern beziehen sich auf irgendwelche etablierten Texte und Denkmuster, die sie dann nach eigenem Gusto abändern.

Ich stimme Winkler zu, daß das unkritische Nachbeten von Werten der schlechteste Weg ist, Werte zu begründen (sowas gibt es in Theismen und Atheismen). Nur ist kritischer Verstand kein Alleinstellungsmerkmal des Atheismus. Schon vor dem Aufkommen des Atheismus, vor dem Zeitalter der Aufklärung, hat man sich mit kritischem Verstand religiösen Überzeugungen zugewandt. So kam es unter anderem zur Reformation, die immer wieder als Voraussetzung für die Aufklärung ins Spiel gebracht wird. Aber das nur am Rande.

Inwieweit Atheismus „notwendige Voraussetzung für einen unbelasteten Ausgangspunkt auf der Suche nach positiven Werten“ ist, kann ich nicht nachvollziehen. Gut, entsprechend seinem Weltbild behauptet Winkler das. Ich könnte das Gleiche vom Glauben an den dreieinen Gott sagen, und Winkler würde mir vehement widersprechen. Ich würde sagen: Man kann beides als Ausgangspunkt wählen, aber keiner kann für den anderen nachvollziehbar behaupten, im Recht zu sein.

Denn in der Lage, „ohne Scheuklappen, ohne Vorurteile, ohne Dogmen mit offenen Augen und kritischem Geist durch das Leben gehen zu können“ bin ich mindestens genau so ie Winkler. Zumindest bilde ich mir dies ein, man möge mich widerlegen.

Natürlich, ich habe meine Dogmen, aber ich meine, auch bei Winkler einige Dogmen erkennt zu haben. Scheuklappen und Vorurteile versuche ich bei mir zu vermeiden, ich hoffe, es gelingt mir, Winkler scheint auch nicht ganz frei von Vorurteilen dem gegenüber, was er Religion nennt, zu sein. Jedenfalls beschreibt er sie durchgehend sehr eindimensional und undifferenziert. Den kritischen Geist nehme ich voll für mich in Anspruch, und dies steht auch in keinem Widerspruch zu meinem Glauben und die Augen bemühe ich mich auch offen zu halten. So kam ich ja auch auf den Artikel von Winkler.

Nebenbei, man sollte mit den Begrifflichkeiten aufpassen. Denn was ist denn Religion? Ein Satz von Überzeugungen, auch Riten, die die Welt erklären sollen. Man kann auch sagen, Religion beschreibe einen Weg, um zu Werten zu kommen. Dabei ist jede Religion anders. Und da rein würden dann auch sämtliche Atheismen fallen. Und diese würden dann Werte bieten, wobei der Atheismus als solcher viel zu vage ist, als daß man davon schon einen Wert ableiten könnte (oder doch? ich trau es mir nicht zu). Gleiches gilt aber auch für den Theismus, da sich dahinter auch alle möglichen bekannten und unbekannten Systeme verbergen. Deshalb benutze ich hier die Begriffe Atheismus und Theismus, die sich nur darin unterscheiden, ob man nun ein oder mehrere Götter annimmt oder nicht. Eigentlich ist das auf das Ganze gesehen ein äußerst kleiner Unterschied (wenn auch ein äußerst Wichtiger).

Ein Mensch kann selbst Werte begründen. Ich denke jedoch, die geht nicht ohne einen Gott. Doch muß man hier mit dem Gottesbegriff aufpassen. Ich fasse den Begriff Gott hier weiter, als man ihn in der Umgangssprache faßt, meine aber, damit strukturelle Klarheit zu gewinnen in Bezug auf Unterschiede zwischen Theisten und Atheisten.

Unter Gott verstehe ich das, was dem Individuum das höchste Gut ist. Für religiöse Menschen ist dies im Idealfall der jeweilige Gott oder der Göttervater vielleicht auch in einem Polytheismus. Ich sage Idealfall, weil ich davon ausgehe, daß kein Mensch diesen Anspruch sein ganzes Leben lang durchhalten kann. Das hat etwas mit der Sünde (wichtig ist der Singular!) zu tun, das ist jedoch ein ganz anderes Thema auf das ich hier nicht eingehen will (wenn jemand an dem Thema Interesse hat mag er sich melden, vielleicht gibt’s dazu dann nen eigenen Artikel im Blog).

Da jeder Mensch ein höchstes Gut hat, von dem er seine Werte ableitet, hat auch jeder Mensch einen Gott nach dieser Definition. Ob dieser Gott nun ein übersinnliches, persönliches, lebendes Wesen ist, wie in den meisten Weltreligionen, ein (heiliges) Buch (ja, das ist ein Seitenhieb auf die Fundamentalisten) oder ein Prinzip, ob ein Mensch oder was auch immer, spielt dabei keine Rolle. Dieses höchste Gut ist es, ob nur eingebildet oder nicht, das unsere Wertebasis ist. Da dieses höchste Gut nicht ein übersinnlicher Gott sein muß, andererseits aber alle Menschen von diesen jeweils eigenen höchsten Gut ihre Werte ableiten (oder es versuchen oder behaupten – genau: Sünde), kann der Mensch natürlich ohne einen Gott, wie Winkler den Begriff versteht, Werte begründen.

Übrigens kommen Theisten und Atheisten jeglicher Couleur häufig zu ähnlichen Werten, auch bei völlig verschiedenen höchsten Gütern oder Göttern. Denn irgendwo sind sie sich doch alle ähnlich, zumindest die Populären. Wäre dies nicht der Fall, würde unsere Gesellschaft auseinanderbrechen, weil es keinen Konsens mehr gäbe und alle gegeneinander arbeiten würden, ja weil ihre unterschiedlichen Götter (meine Begrifflichkeit) dazu führen würden, daß die Konflikte aufbrechen. Denn es können auch höchste Werte auftreten, wie „Rassenhygiene“. Aber schon ein kleiner Gesundheitswahn (höchster Wert=Gesundheit, wie auch immer definiert) kann zur Diskriminierung dicker Menschen führen…

Winkler nennt jetzt als Grundlage für seine Werte das menschliche Bedürfnis und die natürlichen Neigungen des Menschen. Dabei stellt sich das Problem, was denn nun natürlich ist:

Ist homosexuelle Neigung natürlich? Wenn ja, wie ist es mit pädosexueller Neigung? Sagen kann man nur, aß es beides wohl gibt. Was wir als Krankheit definieren und was als natürlich, hat mehr mit Moralvotellung zu tun als mit wissenschaftlicher Erkenntnis.

Was also krank ist und was normal ist Gegenstand einer Vorentscheidung. So gibt es im christlichen Menschenbild (genau, jetzt kommt schon wieder die Sünde) die Ansicht, daß der Mensch erst einmal schlecht ist. Das hat mit der Ursünde (=Erbsünde) zu tun (ob es die gibt ist übrigens unabhängig von der historischen Existenz von Adam und Eva). Der Mensch ist zwar auch zum Guten fähig, abr dies ist immer nur Geschenk Gottes an den Menschen, und liegt nie in dessen eigener Macht. Deshalb habe ich Zweifel daran, daß der Mensch durch Hören auf seine Neigungen ein Wertesystem ableitet, „dass dem Menschen in seinem Menschsein gerecht wird.“ Ich rechne eher damit, daß der Mensch dann ein Wertesystem ableitet, daß seiner Neigung nach Herrschaft und Kontrolle entspricht auch wenn ihm Wege bewußt sind, es besser zu tun. Das ist übrigens unabhängig von Theismus oder Atheismus so. Der Mensch neigt meiner Meinung nach dazu, sich selbst zu vergöttlichen, also sich selbst höchstes Gut zu sein, dem alles Andere zu dienen hat. Deshalb meine ich, neigen totalitäre Systeme wie Stalinismus und Nationalsozialismus auch zu Pseudoreligiösität.

Wer mein Menschenbild nicht teilt, wird natürlich anderer Meinung sein, und das ist okay. Aber bisher konnte mir noch niemand plausibel machen, warum ich Unrecht haben könnte. Selbst wenn ich von einem rein atheistisch-wissenschaftlichen Weltbild ausgehe, scheint die Empirie meine Behauptung zu belegen. Ich sehe das bei mir und anderen, auch Atheisten 😉

Kommen wir zu einem weiteren Dogma Winklers, und hier offenbart er endgültig seinen Fundamentalismus:

Ein naturalistisches Fundament gründet auf der Realität.

Realität ist das, was seiner Beschreibung der Wirklichkeit entspricht. Daran, an der durch ihn festgelegten Realität, haben sich alle auszurichten. Den Theismen wirft er vor, ihre Fragwürdigkeit nicht in Frage stellen zu lassen, dabei bewegt er sich selbst auch nur innerhalb seines eigenen Systems. Ich wage sogar, so weit zu gehen zu behaupten, daß theistische Menschen durch die Allgegenwart des naturalistischen Weltbildes häufiger in Zweifel kommen und ihren Glauben kritisch hinterfragen, als dies Atheisten tun. Hier scheint man oft, ich kann mich natürlich irren, der Meinung zu sein, das eigene Weltbild entspreche der Wirklichkeit, ohne theistische Weltbilder auch nur zu erwägen.

Allerdings, wo er Recht hat, hat er Recht: Die christlichen Kirchen haben durchaus häufig mit Repressalien reagiert, hat man an ihnen gezweifelt. Nur ist es doch so, daß auch derjenige, der heute Gott bekennt, zumindest in gewissen gesellschaftlichen Kreisen ausgegrenzt wird. In manchen politischen Systemen hat er es aufgrund seines Glaubens mit handfesten Repressalien zu tun (Nordkorea wäre wohl eines der krassesten Beispiele) und auch der Autor fordert Repressalien gegen die theistisch denkenden Menschen. Der Atheismus ist im Gegensatz zum Theismus noch sehr jung. Man sollte also vorsichtig sein, mit einseitigen Schuldzuweisungen, bei aller Schuld, die die Kirchen auf sich geladen haben.

Nun folgt eine famose Behauptung, wiederum ein Dogma: Der Atheismus beruht auf keinen Annahmen, die er nicht beweisen könnte und wäre somit sichere Basis für die Entwicklung einer Ethik für die Menschen. Somit wäre der Atheismus folglich das einzige Haus mit schwebendem Fundament: Vollkommen erdbebensicher. Man kann nicht alles beweisen, da man, um einen Beweis zu führen, auf Bekanntem und Sicherem aufbauen muß. Nur: Dieses bekannte ist entweder schon bewiesen, oder Dogma. Da es keine Dogmen gibt, wie er behauptet (wir sind ja auch schon auf einige gestoßen, aber vielleicht hat an diesen Punkten Winkler tatsächlich nur die Beweisführung ausgelassen), kann diese Kette nur endlos zurückgehen: Eine Sache wird Bewiesen auf Grundlage etwas Bewiesenen, das seinerseits wiederum auf früheren Erkenntnissen beruht und so weiter. Will man nun nicht in die Unendlichkeit gelangen (real gibt es meines Wissens nach keine endlose Beweiskette, es gäbe keinen ersten Beweis), ist man zu einem Zirkelschluß gezwungen. Nur ist damit, wie man es auch wenden will, sämtliche Beweiskraft dahin. Und damit dann wohl auch der Vorteil des Atheismus gegenüber dem Theismus, der sich in der Regel seiner Bezogenheit auf den jeweiligen Gott bewußt ist und somit eine unbewiesene Grundlage annimmt.

Nun wird Winkler pathetisch: Auf dem Feld des Atheismus seien Philosophie, Wissenschaft und Kunst gewachsen, auf dem Feld der Religion Intoleranz, Gewalt, Unterdrückung etc…

Interessanterweise gesteht er dem Atheismus zu, daß es auch dort Irrtümer geben kann. Diese sind jedoch mit Gefühl und Verstand (genau, hier kommt er mit Gefühl, was ja eigentlich in einem naturalistisch-logischem Weltbild nichts zu suchen hat) zu überwinden. Komischerweise, oder steckt dahinter Program?), spricht er dieses Gefühl und diesen Verstand dem Theismus nicht zu. Denn auch wenn er zugesteht, daß es „wohlschmeckende Früchte der Religion“ gibt, so werden die doch von Intoleranz, Unterdrückung etc erstickt. Wieso, frage ich mich, geht er davon aus, daß es hier zum Ersticken führen muß, während die Irrtümer beim Atheismus marginal zu bleiben scheinen. Ein weiteres Dogma? Oder kann nicht sein, was nicht sein darf? Er begründet wiederum nicht, er geht davon aus, daß alle seine Meinung teilen und das geht ja auch ganz gut, wenn man sich gegen alles Schlechte, was atheistischen Ursprung haben könnte, immunisiert durch Begriffe wie „pseudoreligiös“ und andererseits den Kirchen Selbstimmunisierung vorwirft.

Aber gleich im Anschluß, zeigt er, daß auch Atheisten zu Intoleranz und Unterdrückungsphantasien neigen können (Irrtümr, die durch Gefühl und Verstand beseitigt werden können? Hoffentlich!):

Wer sich auf Gott beruft, soll nicht mehr gehört werden.

Wie wäre seine Reaktion, forderte ich: Wer sich nicht auf Gott beruft, soll nicht mehr gehört werden? Eben! Ich hoffe, er hat sich vielleicht in eine Euphorie geschrieben und nicht genau bedacht, was er schreibt.

Statt Religionen immer mehr Raum zu überlassen, ist der Samen der Aufklärung zu streuen.

Die Aufklärung war gut und wichtig, und die meisten Forderungen der Aufklärung, wie die kritische Vernunft, sind durchaus mit Religion vereinbar, wie ich meine. Was ich allerdings nicht ganz nachvollziehen kann ist, wo Religionen immer mehr Raum bekommen? Da, wo Kreuze abgehängt werden (nicht daß ich dagegen wäre), oder da, wo Frauen vorgeschrieben kriegen, wie sie sich zu kleiden haben (nach meiner Meinung eines Rechtsstaates unwürdig)? Man könnte hier den Eindruck bekommen, er will Angst vor der voranschreitenden Gefahr der Religion verbreiten, um so die niedrigen Instinkte der Menschen anzusprechen, ihnen einzutrichtern, daß sie selbst in Gefahr sind, wenn es so weitergeht. Das funktioniert auch grad ganz gut beim Thema Hartz IV: Die Gefahr, daß sich die Faulen Arbeitslosen auf unsere Kosten ausruhen. Oder beim Islam. Immer das gleiche Schema. So funktioniert Demagogie, was Winkler sicher nicht beabsichtigte, trotzdem sei darauf hingewiesen.

Auch das weitere:

Das kann schmerzlich sein für die, deren Weltanschauung darauf noch nicht vorbereitet ist. Es wird unvermeidlich zu Anpassungskonflikten kommen. Doch es ist soviel mehr zu gewinnen, als zu verlieren. Zu gewinnen ist ein Miteinander gleichberechtigter Menschen. Zu verlieren ist nur ein sehr sehr alter Irrtum.

Hier denke ich ganz unwillkürlich an Ideologien wie den Kommunismus: Es wird erst einmal schlimmer, gerade für die Bourgoisie, aber am Ende steht der Himmel auf Erden. Das ist, Entschuldigung, naiv. Einen paradiesischen Zustand, der auf Kosten Andersenkender erkauft wird, ist es nicht wert die Bezeichnung „paradiesisch“ zu tragen. Ich bin nicht bereit, Anpassungskonflikte welcher Art auch immer hinzunehmen, auch nicht bei anderen, um damit eine vermeidlich bessere Welt zu bekommen. All diese Utopien von der besseren Welt wenn nur erst dies oder das umgesetzt würde, endeten am Ende im Chaos. Aber vielleicht bin ich mir dessen gerade deshalb so bewußt, weil ich die Geschichte des Christentums kenne mit den immer wiederkehrenden Ideologien. Spätestens hier wird auch Winkler pseudoreligiös.

Am Schluß fragt Winkler noch nach der Aufpasserfunktion der Religion und schießt damit meilenweit am Thema vorbei. Zumindest ich nehme für meinen Glauben in Anspruch, daß er keine Aufpasserfunktion hat. Ich glaube aufgrund dessen, was ich für wahr halte, und nicht um damit irgend eine Funktion zu erfüllen. So funktioniert das nicht. Deshalb kann Winkler auch feststellen, daß trotz Religion Menschen Böses getan haben. Das liegt jedoch nicht am Versagen der Religion, sondern an der Natur des Menschen, die eben böse ist.

Eine Erklärung, wie man das Böse aus der Welt schaffen kann, gibt jedoch auch Winkler nicht. Vielleicht verschwindet es, wenn die Theisten zum Schweigen gebracht sind.

Ich gebe zu, ich bin in diesem Text an einigen Stellen sehr scharf geworden. Ich denke aber, es war berechtigt, denn Winkler erhebt teilweise Forderungen, die ich nur als grundfalsch begreifen kann. Ich habe nichts gegen ihn und seine Weltanschauung. Er soll damit glücklich werden, von mir aus soll er sie auch bewerben. Wenn er aber zum Fundamentalismus übergeht, und auf der Spur ist er mit dem verlinkten Text, kann ich dazu nicht schweigen. Außerdem wollte ich einige Mißkonzeptionen über Religion ein bißchen gerade rücke. Ich hoffe, es ist mir ansatzweise gelungen.

Comments

Comment by Nachtwaechter on 2010-02-22 02:24:56 +0100

Wie soll nun die logische Möglichkeit bestehen, Gott nachzuweisen, wenn ich mich in einem System bewegen muß, zu dessen definitorischen Grundlagen es gehört, daß Gott nicht darin vorkommt?

Das ist die mit Abstand fröhlichste Frage an den sich selbst als wissenschaftlich verstehenden Atheismus, die ich in den letzten Monaten lesen durfte… 😉

Comment by bundesbedenkentraeger on 2010-02-22 10:12:09 +0100

Hier scheint sich eine Diskussion zum obigen Text zu entwickeln:

http://neueatheisten.wordpress.com/2010/02/20/warum-ethik-keine-gott-braucht/